Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Hufeland, Otto: Vorlesungen über physicalische Geographie von A. v. Humboldt. [G]eschrieben im Sommer 1829 durch Otto Hufeland. [Berlin], [ca. 1829]. [= Abschrift einer Nachschrift der ‚Kosmos-Vorträge‛ Alexander von Humboldts in der Sing-Akademie zu Berlin, 6.12.1827–27.3.1828.]

Bild:
<< vorherige Seite

Schon der Pater Corsali hat diese Stelle auf das südliche Kreuz gedeu-
tet. Dante befindet sich nehmlich auf einem Berge der Antipoden der
Stadt Jerusalem.

Da die beiden großen Sterne, welche die Spitze und den Fuß des Kreuzes
bezeichnen, ungefähr dieselbe Rectascension haben, so muß das Stern-
bild in dem Augenblicke, wo es durch den Meridian geht, beinahe
senkrecht stehen. Diesen Umstand kennen alle Völker jenseits des Wende-
kreises oder in der südlichen Hemisphäre. Man hat berechnet, um welche
Zeit in der Nacht in verschiednen Jahreszeiten das Kreuz im Süden grade
oder gebeugt ist; es ist dieß eine Uhr, welche ziemlich regelmässig nahe
um 4 Minuten täglich vorrückt, und kein anderes Sternbild bietet
eine so leicht anzustellende Beobachtung der Zeit dar. "Mitternacht
ist vorbei, das Kreuz neigt sich" hörten wir oft unsere Führer
sagen in den Savannen von Venezuela und oft haben mir diese
Worte die rührende Scene zurückgerufen, die Bernardin de St.
Pierre
schildert, als beim Anblick des Kreuzes der Greis Paul und
Virginie erinnert, daß es Zeit sei, zu scheiden.

Man hat ein eignes wunderbares unbekanntes Gefühl, wenn man
bei der Annäherung gegen den Aequator allmählich die Sterne
verschwinden sieht, welche uns in der Heimath leuchten. In der
Einsamkeit des Meeres grüßt man einen Stern, wie einen
Freund, von dem man lange getrennt war, und freudig erblicken
selbst unsere Matrosen den Polarstern, wenn sie aus der andern
Hemisphäre heimkehrend, die bekannten Sterne ihrer Kindheit
wieder sehen.

Schon der Pater Corsali hat diese Stelle auf das südliche Kreuz gedeu-
tet. Dante befindet sich nehmlich auf einem Berge der Antipoden der
Stadt Jerusalem.

Da die beiden großen Sterne, welche die Spitze und den Fuß des Kreuzes
bezeichnen, ungefähr dieselbe Rectascension haben, so muß das Stern-
bild in dem Augenblicke, wo es durch den Meridian geht, beinahe
senkrecht stehen. Diesen Umstand kennen alle Völker jenseits des Wende-
kreises oder in der südlichen Hemisphäre. Man hat berechnet, um welche
Zeit in der Nacht in verschiednen Jahreszeiten das Kreuz im Süden grade
oder gebeugt ist; es ist dieß eine Uhr, welche ziemlich regelmässig nahe
um 4 Minuten täglich vorrückt, und kein anderes Sternbild bietet
eine so leicht anzustellende Beobachtung der Zeit dar. „Mitternacht
ist vorbei, das Kreuz neigt sich‟ hörten wir oft unsere Führer
sagen in den Savannen von Venezuela und oft haben mir diese
Worte die rührende Scene zurückgerufen, die Bernardin de St.
Pierre
schildert, als beim Anblick des Kreuzes der Greis Paul und
Virginie eriñert, daß es Zeit sei, zu scheiden.

Man hat ein eignes wunderbares unbekañtes Gefühl, weñ man
bei der Annäherung gegen den Aequator allmählich die Sterne
verschwinden sieht, welche uns in der Heimath leuchten. In der
Einsamkeit des Meeres grüßt man einen Stern, wie einen
Freund, von dem man lange getreñt war, und freudig erblicken
selbst unsere Matrosen den Polarstern, weñ sie aus der andern
Hemisphäre heimkehrend, die bekannten Sterne ihrer Kindheit
wieder sehen.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div type="session" n="15">
        <pb facs="#f0140" n="136"/>
        <p>Schon der Pater <hi rendition="#aq"><persName ref="http://www.deutschestextarchiv.de/kosmos/person#gnd-119646188 http://d-nb.info/gnd/119646188">Corsa<unclear reason="illegible" cert="high" resp="#CT">l</unclear>i</persName></hi> hat diese Stelle auf das südliche Kreuz gedeu-<lb/>
tet. <hi rendition="#aq"><persName ref="http://www.deutschestextarchiv.de/kosmos/person#gnd-118523708 http://d-nb.info/gnd/118523708">Dante</persName></hi> befindet sich nehmlich auf einem Berge der Antipoden der<lb/>
Stadt <hi rendition="#aq">Jerusalem</hi>.</p><lb/>
        <p>Da die beiden großen Sterne, welche die Spitze <choice><abbr>u</abbr><expan resp="#BF">und</expan></choice> den Fuß des Kreuzes<lb/>
bezeichnen, ungefähr dieselbe Rectascension haben, so muß das Stern-<lb/>
bild in dem Augenblicke, wo es durch den Meridian geht, beinahe<lb/>
senkrecht stehen. Diesen Umstand kennen alle Völker jenseit<del rendition="#s" hand="#OH_pencil">s</del> des Wende-<lb/>
kreises oder in der südlichen Hemisphäre. Man hat berechnet, um welche<lb/>
Zeit in der Nacht in verschiednen Jahreszeiten das Kreuz im Süden grade<lb/>
oder gebeugt ist; es ist dieß eine Uhr, welche ziemlich regelmässig nahe<lb/>
um 4 Minuten täglich vorrückt, <choice><abbr>u</abbr><expan resp="#BF">und</expan></choice> kein anderes Sternbild bietet<lb/>
eine so leicht anzustellende Beobachtung der Zeit dar. &#x201E;Mitternacht<lb/>
ist vorbei, das Kreuz neigt sich&#x201F; hörten wir oft unsere Führer<lb/>
sagen in den Savannen von Venezuela und oft haben mir diese<lb/>
Worte die rührende Scene zurückgerufen, die <hi rendition="#aq"><persName ref="http://www.deutschestextarchiv.de/kosmos/person#gnd-118604945 http://d-nb.info/gnd/118604945">Bernardin de St.<lb/>
Pierre</persName></hi> schildert, als beim Anblick des Kreuzes der Greis <hi rendition="#aq">Paul</hi> und<lb/><hi rendition="#aq">Virginie</hi> erin&#x0303;ert, daß es Zeit sei, zu scheiden.<note resp="#BF" type="editorial">Vgl. <bibl>Saint-Pierre, Bernardin de: Paul et Virginie. Paris 1789.</bibl> Online verfügbar: <ref target="https://archive.org/details/pauletvirgini00sain">Internet Archive, abgerufen am 21.12.2015</ref>.</note></p><lb/>
        <p>Man hat ein eignes wunderbares unbekan&#x0303;tes Gefühl, wen&#x0303; man<lb/>
bei der Annäherung gegen den Aequator allmählich die Sterne<lb/>
verschwinden sieht, welche uns in der Heimath leuchten. In der<lb/>
Einsamkeit des Meeres grüßt man einen Stern, wie einen<lb/>
Freund, von dem man lange getren&#x0303;t war, und freudig erblicken<lb/>
selbst unsere Matrosen den Polarstern, wen&#x0303; sie aus der andern<lb/>
Hemisphäre heimkehrend, die bekannten Sterne ihrer Kindheit<lb/>
wieder sehen.</p><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[136/0140] Schon der Pater Corsali hat diese Stelle auf das südliche Kreuz gedeu- tet. Dante befindet sich nehmlich auf einem Berge der Antipoden der Stadt Jerusalem. Da die beiden großen Sterne, welche die Spitze u den Fuß des Kreuzes bezeichnen, ungefähr dieselbe Rectascension haben, so muß das Stern- bild in dem Augenblicke, wo es durch den Meridian geht, beinahe senkrecht stehen. Diesen Umstand kennen alle Völker jenseits des Wende- kreises oder in der südlichen Hemisphäre. Man hat berechnet, um welche Zeit in der Nacht in verschiednen Jahreszeiten das Kreuz im Süden grade oder gebeugt ist; es ist dieß eine Uhr, welche ziemlich regelmässig nahe um 4 Minuten täglich vorrückt, u kein anderes Sternbild bietet eine so leicht anzustellende Beobachtung der Zeit dar. „Mitternacht ist vorbei, das Kreuz neigt sich‟ hörten wir oft unsere Führer sagen in den Savannen von Venezuela und oft haben mir diese Worte die rührende Scene zurückgerufen, die Bernardin de St. Pierre schildert, als beim Anblick des Kreuzes der Greis Paul und Virginie eriñert, daß es Zeit sei, zu scheiden. Man hat ein eignes wunderbares unbekañtes Gefühl, weñ man bei der Annäherung gegen den Aequator allmählich die Sterne verschwinden sieht, welche uns in der Heimath leuchten. In der Einsamkeit des Meeres grüßt man einen Stern, wie einen Freund, von dem man lange getreñt war, und freudig erblicken selbst unsere Matrosen den Polarstern, weñ sie aus der andern Hemisphäre heimkehrend, die bekannten Sterne ihrer Kindheit wieder sehen.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Christian Thomas: Herausgeber
Tina Krell, Sandra Balck, Benjamin Fiechter, Christian Thomas: Bearbeiter
Nalan Lom: Bilddigitalisierung

Weitere Informationen:

Dieses Werk wurde auf der Grundlage der Transkription von [N. N.]: Physikalische Geographie. Vorgetragen von Alexander von Humboldt. [Berlin], [1827/28] anhand der Vorlage geprüft und korrigiert, nach XML/TEI P5 konvertiert und gemäß dem DTA-Basisformat kodiert.

  • langes s (ſ): als s transkribiert
  • I/J: Lautwert transkribiert



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/hufeland_privatbesitz_1829
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/hufeland_privatbesitz_1829/140
Zitationshilfe: Hufeland, Otto: Vorlesungen über physicalische Geographie von A. v. Humboldt. [G]eschrieben im Sommer 1829 durch Otto Hufeland. [Berlin], [ca. 1829]. [= Abschrift einer Nachschrift der ‚Kosmos-Vorträge‛ Alexander von Humboldts in der Sing-Akademie zu Berlin, 6.12.1827–27.3.1828.], S. 136. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hufeland_privatbesitz_1829/140>, abgerufen am 18.04.2024.