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Humboldt, Alexander von: Ansichten der Natur mit wissenschaftlichen Erläuterungen […]. Erster Band. [Ankündigung des Erscheinens und Auszug, Teil 2 von 2].. In: Morgenblatt für gebildete Stände, Nr. 50 (1808), S. 197–199.

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[Spaltenumbruch] in der Katarakte verlassen. Das Kanoe sollte eine schmale
Jnsel umschiffen, um uns, nach einem langen Umwege, an
der untern Spitze derselben wiederum aufzunehmen. An-
derthalb Stunden lang harrten wir, bey fürchterlichem Ge-
witterregen. Die Nacht brach ein; wir suchten vergebens
Schutz zwischen den klüftigen Granitmassen. Die kleinen
Affen, welche wir Monate lang in geflochtenen Käfigen mit
uns führten, lockten durch ihr klagendes Geschrey Krokodile
herbey, deren Größe und bleygraue Farbe ein hohes Alter
andeuteten. Jch würde dieser im Orinoco so gewöhnlichen
Erscheinung nicht erwähnen, hätten uns nicht die Jndianer
versichert, kein Krokodil sey je in den Katarakten gesehen
worden. Ja im Vertrauen auf ihre Behauptung hatten
wir es mehrmals gewagt, uns in diesem Theile des Flusses
zu baden.

Jndessen nahm die Besorgniß, daß wir durchnäßt, und
von dem Donner des Wassersturzes betäubt, die lange Tro-
pennacht mitten im Raudal durchwachen müßten, mit jedem
Augenblicke zu, bis die Jndianer mit unserm Kanoe er-
schienen. Sie hatten die Staffel, auf der sie sich herablassen
wollten, bey allzuniedrigem Wasserstande unzugänglich gefun-
den. Die Lootsen waren genöthigt gewesen, in dem Labyrinth
von Kanälen ein zugänglicher[es] Fahrwasser zu suchen.

Am südlichen Eingange d[es] Raudals von Atures, am
rechten Ufer des Flusses, liegt die unter den Jndianern
weit berufene Höhle von Ataruipe. Die Gegend umher hat
einen großen und ernsten Natur-Charakter, der sie gleichsam
zu einem Nationalbegräbnisse eignet. Man erklimmt müh-
sam, selbst nicht ohne Gefahr herabzurollen, eine steile,
völlig nackte Granitwand. Es würde kaum möglich seyn,
auf der glatten Fläche festen Fuß zu fassen, träten nicht
große Feldspathkristalle, der Verwitterung trotzend, zolllang
aus dem Gesteine hervor.

Kaum ist die Kuppe erreicht, so wird man durch eine
weite Aussicht über die umliegende Gegend überrascht. Aus
dem schäumenden Flußbette erheben sich mit Wald geschmückte
Hügel. Jenseits des Stromes, über das westliche Ufer
hinweg, ruht der Blick auf der unermeßlichen Grasflur des
Meta. Am Horizont erscheint, wie drohend aufziehendes
Gewölk, das Gebirge Uniama. So die Ferne; aber nahe
umher ist alles öde und eng. Jm tief gefurchten Thale
schweben einsam der Geyer und die krächzenden Caprimulge.
An der nackten Felswand schleicht ihr schwindender Schat-
ten hin.

Dieser Kessel ist von Bergen begränzt, deren abgerundete
Gipfel ungeheure Granitkugeln tragen. Der Durchmesser
dieser Kugeln beträgt 40 bis 50 Fuß. Sie scheinen die Unter-
lage nur in einem einzigen Punkte zu berühren, eben als
müßten sie, bey dem schwächsten Erdstoße, herabrollen.

Der hintere Theil des Felshals ist mit dichtem Laubholze
bedeckt. An diesem schattigen Orte öffnet sich die Höhle
von Ataruipe; eigentlich nicht Höhle, sondern ein Gewölbe,
[Spaltenumbruch]
eine weit überhängende Klippe, eine Bucht, welche die
Wasser, als sie einst diese Höhe erreichten, ausgewaschen
haben. Die Höhle selbst ist die Gruft eines vertilgten
Völkerstammes. Wir zählten ungefähr 600 wohlerhaltene
Skelette, in eben so vielen Körben, welche von den Stielen
des Palmenlaubes geflochten sind. Diese Körbe, die die
Jndianer Mapires nennen, bilden eine Art viereckiger Säcke,
die nach dem Alter des Verstorbenen von verschiedener Größe
sind. Selbst neugeborne Kinder haben ihre eigenen Mapire.
Jhre Skelette sind so vollständig, daß keine Rippe, keine
Phalange fehlt.

Die Knochen sind auf dreyerlei Weise zubereitet; theils
gebleicht, theils mit Onoto, dem Pigment der Bixa orel-
lana
, rothgefärbt, theils mumienartig zwischen wohlriechen-
dem Harze in Pisangblätter eingeknetet.

Die Jndianer versichern, man grabe den frischen Leich-
nam auf einige Monate in feuchte Erde, welche das Mus-
kelfleisch allmählig verzehre; dann scharre man ihn aus, und
schabe mit scharfen Steinen den Rest des Fleisches von den
Knochen ab. Dies sey noch der Gebrauch mancher Horden
der Guayana. Neben den Mapires oder Körben findet man
auch Urnen von halbgebranntem Thone, welche die Knochen
von ganzen Familien zu enthalten scheinen.

Die größern dieser Urnen sind 3 Fuß hoch und 5 1/2 Fuß
lang, von angenehmer ovaler Form, grünlich, mit Henkeln
in Gestalt von Krokodilen und Schlangen, an dem obern
Rande mit Meandern und Labyrinthen geschmückt. Diese
Verzierungen sind ganz denen ähnlich, welche die Wände
des mexikanischen Pallastes bey Mitla bedecken. Man findet
sie unter allen Zonen, auf den verschiedensten Stufen mensch-
licher Kultur; unter Griechen und Römern, am sogenann-
ten Tempel des Deus rediculus bey Rom, wie auf den
Schildern der Otaheiter; überall, wo rhythmische Wieder-
holung regelmäßiger Formen dem Auge schmeichelte. Die
Ursachen dieser Aehnlichkeiten beruhen, wie ich an einem
andern Orte entwickelt habe, mehr auf psychischen Gründen,
auf der innern Natur unserer Geistesanlagen, als sie Gleich-
heit der Abstammung und altes Verkehr der Völker beweisen.

Unsere Dolmetscher konnten keine sichere Auskunft über
das Alter dieser Gefäße geben. Die mehrsten Skelette
schienen indeß nicht über 100 Jahr alt zu seyn. Es geht
die Sage unter den Guareken-Jndianern, die tapferen Atu-
rer haben sich, von menschenfressenden Kariben bedrängt, auf
die Klippen der Katarakten gerettet; ein trauriger Wohnsitz,
in welchem der bedrängte Völkerstamm und mit ihm seine
Sprache unterging. Jn dem unzugänglichsten Theile des
Raudals befinden sich ähnliche Grüfte; ja es ist wahrschein-
lich, daß die letzte Familie der Aturer erst spät ausgestorben
sey. Denn in Maypures (ein sonderbares Faktum) lebt
noch ein alter Papagei, von dem die Eingebornen behaupten,
daß man ihn darum nicht verstehe, weil er die Sprache der
Aturer rede.


[Spaltenumbruch] in der Katarakte verlaſſen. Das Kanoe ſollte eine ſchmale
Jnſel umſchiffen, um uns, nach einem langen Umwege, an
der untern Spitze derſelben wiederum aufzunehmen. An-
derthalb Stunden lang harrten wir, bey fuͤrchterlichem Ge-
witterregen. Die Nacht brach ein; wir ſuchten vergebens
Schutz zwiſchen den kluͤftigen Granitmaſſen. Die kleinen
Affen, welche wir Monate lang in geflochtenen Kaͤfigen mit
uns fuͤhrten, lockten durch ihr klagendes Geſchrey Krokodile
herbey, deren Groͤße und bleygraue Farbe ein hohes Alter
andeuteten. Jch wuͤrde dieſer im Orinoco ſo gewoͤhnlichen
Erſcheinung nicht erwaͤhnen, haͤtten uns nicht die Jndianer
verſichert, kein Krokodil ſey je in den Katarakten geſehen
worden. Ja im Vertrauen auf ihre Behauptung hatten
wir es mehrmals gewagt, uns in dieſem Theile des Fluſſes
zu baden.

Jndeſſen nahm die Beſorgniß, daß wir durchnaͤßt, und
von dem Donner des Waſſerſturzes betaͤubt, die lange Tro-
pennacht mitten im Raudal durchwachen muͤßten, mit jedem
Augenblicke zu, bis die Jndianer mit unſerm Kanoe er-
ſchienen. Sie hatten die Staffel, auf der ſie ſich herablaſſen
wollten, bey allzuniedrigem Waſſerſtande unzugaͤnglich gefun-
den. Die Lootſen waren genoͤthigt geweſen, in dem Labyrinth
von Kanaͤlen ein zugaͤnglicher[es] Fahrwaſſer zu ſuchen.

Am ſuͤdlichen Eingange d[es] Raudals von Atures, am
rechten Ufer des Fluſſes, liegt die unter den Jndianern
weit berufene Hoͤhle von Ataruipe. Die Gegend umher hat
einen großen und ernſten Natur-Charakter, der ſie gleichſam
zu einem Nationalbegraͤbniſſe eignet. Man erklimmt muͤh-
ſam, ſelbſt nicht ohne Gefahr herabzurollen, eine ſteile,
voͤllig nackte Granitwand. Es wuͤrde kaum moͤglich ſeyn,
auf der glatten Flaͤche feſten Fuß zu faſſen, traͤten nicht
große Feldſpathkriſtalle, der Verwitterung trotzend, zolllang
aus dem Geſteine hervor.

Kaum iſt die Kuppe erreicht, ſo wird man durch eine
weite Ausſicht uͤber die umliegende Gegend uͤberraſcht. Aus
dem ſchaͤumenden Flußbette erheben ſich mit Wald geſchmuͤckte
Huͤgel. Jenſeits des Stromes, uͤber das weſtliche Ufer
hinweg, ruht der Blick auf der unermeßlichen Grasflur des
Meta. Am Horizont erſcheint, wie drohend aufziehendes
Gewoͤlk, das Gebirge Uniama. So die Ferne; aber nahe
umher iſt alles oͤde und eng. Jm tief gefurchten Thale
ſchweben einſam der Geyer und die kraͤchzenden Caprimulge.
An der nackten Felswand ſchleicht ihr ſchwindender Schat-
ten hin.

Dieſer Keſſel iſt von Bergen begraͤnzt, deren abgerundete
Gipfel ungeheure Granitkugeln tragen. Der Durchmeſſer
dieſer Kugeln betraͤgt 40 bis 50 Fuß. Sie ſcheinen die Unter-
lage nur in einem einzigen Punkte zu beruͤhren, eben als
muͤßten ſie, bey dem ſchwaͤchſten Erdſtoße, herabrollen.

Der hintere Theil des Felshals iſt mit dichtem Laubholze
bedeckt. An dieſem ſchattigen Orte oͤffnet ſich die Hoͤhle
von Ataruipe; eigentlich nicht Hoͤhle, ſondern ein Gewoͤlbe,
[Spaltenumbruch]
eine weit uͤberhaͤngende Klippe, eine Bucht, welche die
Waſſer, als ſie einſt dieſe Hoͤhe erreichten, ausgewaſchen
haben. Die Hoͤhle ſelbſt iſt die Gruft eines vertilgten
Voͤlkerſtammes. Wir zaͤhlten ungefaͤhr 600 wohlerhaltene
Skelette, in eben ſo vielen Koͤrben, welche von den Stielen
des Palmenlaubes geflochten ſind. Dieſe Koͤrbe, die die
Jndianer Mapires nennen, bilden eine Art viereckiger Saͤcke,
die nach dem Alter des Verſtorbenen von verſchiedener Groͤße
ſind. Selbſt neugeborne Kinder haben ihre eigenen Mapire.
Jhre Skelette ſind ſo vollſtaͤndig, daß keine Rippe, keine
Phalange fehlt.

Die Knochen ſind auf dreyerlei Weiſe zubereitet; theils
gebleicht, theils mit Onoto, dem Pigment der Bixa orel-
lana
, rothgefaͤrbt, theils mumienartig zwiſchen wohlriechen-
dem Harze in Piſangblaͤtter eingeknetet.

Die Jndianer verſichern, man grabe den friſchen Leich-
nam auf einige Monate in feuchte Erde, welche das Mus-
kelfleiſch allmaͤhlig verzehre; dann ſcharre man ihn aus, und
ſchabe mit ſcharfen Steinen den Reſt des Fleiſches von den
Knochen ab. Dies ſey noch der Gebrauch mancher Horden
der Guayana. Neben den Mapires oder Koͤrben findet man
auch Urnen von halbgebranntem Thone, welche die Knochen
von ganzen Familien zu enthalten ſcheinen.

Die groͤßern dieſer Urnen ſind 3 Fuß hoch und 5 ½ Fuß
lang, von angenehmer ovaler Form, gruͤnlich, mit Henkeln
in Geſtalt von Krokodilen und Schlangen, an dem obern
Rande mit Meandern und Labyrinthen geſchmuͤckt. Dieſe
Verzierungen ſind ganz denen aͤhnlich, welche die Waͤnde
des mexikaniſchen Pallaſtes bey Mitla bedecken. Man findet
ſie unter allen Zonen, auf den verſchiedenſten Stufen menſch-
licher Kultur; unter Griechen und Roͤmern, am ſogenann-
ten Tempel des Deus rediculus bey Rom, wie auf den
Schildern der Otaheiter; uͤberall, wo rhythmiſche Wieder-
holung regelmaͤßiger Formen dem Auge ſchmeichelte. Die
Urſachen dieſer Aehnlichkeiten beruhen, wie ich an einem
andern Orte entwickelt habe, mehr auf pſychiſchen Gruͤnden,
auf der innern Natur unſerer Geiſtesanlagen, als ſie Gleich-
heit der Abſtammung und altes Verkehr der Voͤlker beweiſen.

Unſere Dolmetſcher konnten keine ſichere Auskunft uͤber
das Alter dieſer Gefaͤße geben. Die mehrſten Skelette
ſchienen indeß nicht uͤber 100 Jahr alt zu ſeyn. Es geht
die Sage unter den Guareken-Jndianern, die tapferen Atu-
rer haben ſich, von menſchenfreſſenden Kariben bedraͤngt, auf
die Klippen der Katarakten gerettet; ein trauriger Wohnſitz,
in welchem der bedraͤngte Voͤlkerſtamm und mit ihm ſeine
Sprache unterging. Jn dem unzugaͤnglichſten Theile des
Raudals befinden ſich aͤhnliche Gruͤfte; ja es iſt wahrſchein-
lich, daß die letzte Familie der Aturer erſt ſpaͤt ausgeſtorben
ſey. Denn in Maypures (ein ſonderbares Faktum) lebt
noch ein alter Papagei, von dem die Eingebornen behaupten,
daß man ihn darum nicht verſtehe, weil er die Sprache der
Aturer rede.

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[198/0002] in der Katarakte verlaſſen. Das Kanoe ſollte eine ſchmale Jnſel umſchiffen, um uns, nach einem langen Umwege, an der untern Spitze derſelben wiederum aufzunehmen. An- derthalb Stunden lang harrten wir, bey fuͤrchterlichem Ge- witterregen. Die Nacht brach ein; wir ſuchten vergebens Schutz zwiſchen den kluͤftigen Granitmaſſen. Die kleinen Affen, welche wir Monate lang in geflochtenen Kaͤfigen mit uns fuͤhrten, lockten durch ihr klagendes Geſchrey Krokodile herbey, deren Groͤße und bleygraue Farbe ein hohes Alter andeuteten. Jch wuͤrde dieſer im Orinoco ſo gewoͤhnlichen Erſcheinung nicht erwaͤhnen, haͤtten uns nicht die Jndianer verſichert, kein Krokodil ſey je in den Katarakten geſehen worden. Ja im Vertrauen auf ihre Behauptung hatten wir es mehrmals gewagt, uns in dieſem Theile des Fluſſes zu baden. Jndeſſen nahm die Beſorgniß, daß wir durchnaͤßt, und von dem Donner des Waſſerſturzes betaͤubt, die lange Tro- pennacht mitten im Raudal durchwachen muͤßten, mit jedem Augenblicke zu, bis die Jndianer mit unſerm Kanoe er- ſchienen. Sie hatten die Staffel, auf der ſie ſich herablaſſen wollten, bey allzuniedrigem Waſſerſtande unzugaͤnglich gefun- den. Die Lootſen waren genoͤthigt geweſen, in dem Labyrinth von Kanaͤlen ein zugaͤnglicheres Fahrwaſſer zu ſuchen. Am ſuͤdlichen Eingange des Raudals von Atures, am rechten Ufer des Fluſſes, liegt die unter den Jndianern weit berufene Hoͤhle von Ataruipe. Die Gegend umher hat einen großen und ernſten Natur-Charakter, der ſie gleichſam zu einem Nationalbegraͤbniſſe eignet. Man erklimmt muͤh- ſam, ſelbſt nicht ohne Gefahr herabzurollen, eine ſteile, voͤllig nackte Granitwand. Es wuͤrde kaum moͤglich ſeyn, auf der glatten Flaͤche feſten Fuß zu faſſen, traͤten nicht große Feldſpathkriſtalle, der Verwitterung trotzend, zolllang aus dem Geſteine hervor. Kaum iſt die Kuppe erreicht, ſo wird man durch eine weite Ausſicht uͤber die umliegende Gegend uͤberraſcht. Aus dem ſchaͤumenden Flußbette erheben ſich mit Wald geſchmuͤckte Huͤgel. Jenſeits des Stromes, uͤber das weſtliche Ufer hinweg, ruht der Blick auf der unermeßlichen Grasflur des Meta. Am Horizont erſcheint, wie drohend aufziehendes Gewoͤlk, das Gebirge Uniama. So die Ferne; aber nahe umher iſt alles oͤde und eng. Jm tief gefurchten Thale ſchweben einſam der Geyer und die kraͤchzenden Caprimulge. An der nackten Felswand ſchleicht ihr ſchwindender Schat- ten hin. Dieſer Keſſel iſt von Bergen begraͤnzt, deren abgerundete Gipfel ungeheure Granitkugeln tragen. Der Durchmeſſer dieſer Kugeln betraͤgt 40 bis 50 Fuß. Sie ſcheinen die Unter- lage nur in einem einzigen Punkte zu beruͤhren, eben als muͤßten ſie, bey dem ſchwaͤchſten Erdſtoße, herabrollen. Der hintere Theil des Felshals iſt mit dichtem Laubholze bedeckt. An dieſem ſchattigen Orte oͤffnet ſich die Hoͤhle von Ataruipe; eigentlich nicht Hoͤhle, ſondern ein Gewoͤlbe, eine weit uͤberhaͤngende Klippe, eine Bucht, welche die Waſſer, als ſie einſt dieſe Hoͤhe erreichten, ausgewaſchen haben. Die Hoͤhle ſelbſt iſt die Gruft eines vertilgten Voͤlkerſtammes. Wir zaͤhlten ungefaͤhr 600 wohlerhaltene Skelette, in eben ſo vielen Koͤrben, welche von den Stielen des Palmenlaubes geflochten ſind. Dieſe Koͤrbe, die die Jndianer Mapires nennen, bilden eine Art viereckiger Saͤcke, die nach dem Alter des Verſtorbenen von verſchiedener Groͤße ſind. Selbſt neugeborne Kinder haben ihre eigenen Mapire. Jhre Skelette ſind ſo vollſtaͤndig, daß keine Rippe, keine Phalange fehlt. Die Knochen ſind auf dreyerlei Weiſe zubereitet; theils gebleicht, theils mit Onoto, dem Pigment der Bixa orel- lana, rothgefaͤrbt, theils mumienartig zwiſchen wohlriechen- dem Harze in Piſangblaͤtter eingeknetet. Die Jndianer verſichern, man grabe den friſchen Leich- nam auf einige Monate in feuchte Erde, welche das Mus- kelfleiſch allmaͤhlig verzehre; dann ſcharre man ihn aus, und ſchabe mit ſcharfen Steinen den Reſt des Fleiſches von den Knochen ab. Dies ſey noch der Gebrauch mancher Horden der Guayana. Neben den Mapires oder Koͤrben findet man auch Urnen von halbgebranntem Thone, welche die Knochen von ganzen Familien zu enthalten ſcheinen. Die groͤßern dieſer Urnen ſind 3 Fuß hoch und 5 ½ Fuß lang, von angenehmer ovaler Form, gruͤnlich, mit Henkeln in Geſtalt von Krokodilen und Schlangen, an dem obern Rande mit Meandern und Labyrinthen geſchmuͤckt. Dieſe Verzierungen ſind ganz denen aͤhnlich, welche die Waͤnde des mexikaniſchen Pallaſtes bey Mitla bedecken. Man findet ſie unter allen Zonen, auf den verſchiedenſten Stufen menſch- licher Kultur; unter Griechen und Roͤmern, am ſogenann- ten Tempel des Deus rediculus bey Rom, wie auf den Schildern der Otaheiter; uͤberall, wo rhythmiſche Wieder- holung regelmaͤßiger Formen dem Auge ſchmeichelte. Die Urſachen dieſer Aehnlichkeiten beruhen, wie ich an einem andern Orte entwickelt habe, mehr auf pſychiſchen Gruͤnden, auf der innern Natur unſerer Geiſtesanlagen, als ſie Gleich- heit der Abſtammung und altes Verkehr der Voͤlker beweiſen. Unſere Dolmetſcher konnten keine ſichere Auskunft uͤber das Alter dieſer Gefaͤße geben. Die mehrſten Skelette ſchienen indeß nicht uͤber 100 Jahr alt zu ſeyn. Es geht die Sage unter den Guareken-Jndianern, die tapferen Atu- rer haben ſich, von menſchenfreſſenden Kariben bedraͤngt, auf die Klippen der Katarakten gerettet; ein trauriger Wohnſitz, in welchem der bedraͤngte Voͤlkerſtamm und mit ihm ſeine Sprache unterging. Jn dem unzugaͤnglichſten Theile des Raudals befinden ſich aͤhnliche Gruͤfte; ja es iſt wahrſchein- lich, daß die letzte Familie der Aturer erſt ſpaͤt ausgeſtorben ſey. Denn in Maypures (ein ſonderbares Faktum) lebt noch ein alter Papagei, von dem die Eingebornen behaupten, daß man ihn darum nicht verſtehe, weil er die Sprache der Aturer rede.

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Ansichten der Natur mit wissenschaftlichen Erläuterungen […]. Erster Band. [Ankündigung des Erscheinens und Auszug, Teil 2 von 2].. In: Morgenblatt für gebildete Stände, Nr. 50 (1808), S. 197–199, hier S. 198. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_natur02_1808/2>, abgerufen am 28.03.2024.