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Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847.

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11.

L ., 32 Jahre alt, ist die Tochter eines hiesigen Tafel¬
deckers, dessen oft nur spärlicher Erwerb eine große Einschrän¬
kung des Hauswesens bei einer Familie von 4 Kindern nö¬
thig machte. Dennoch herrschte in letzterer ein heiterer Sinn
und sittlicher Geist, welchen der Vater dadurch stets rege er¬
hielt, daß er seinen in Dienst getretenen Töchtern jeden Be¬
such öffentlicher Vergnügungsorte mit der Drohung untersagte,
die seinem Befehl Ungehorsame sofort verstoßen zu wollen.
Dafür sorgte er durch Spiel auf der Geige, welche zum Tanze
mit Hausfreunden aufforderte, und durch andere unschuldige
Erheiterungen dafür, daß der Frohsinn unter den Seinigen
einheimisch blieb, und seine mit Ernst gepaarte herzliche Freund¬
lichkeit erwarb ihm die Liebe derselben in einem so hohen Grade,
daß sie sich in seiner Nähe am glücklichsten fühlten. Insbe¬
sondere war unsere Kranke sein Liebling, weil sie sich durch
Munterkeit und witzige Einfälle vor ihren Geschwistern aus¬
zeichnete. Sie konnte nur mehrere Jahre hindurch eine Ar¬
menschule besuchen, in welcher sie sich die nothwendigsten Ele¬
mentarkenntnisse erwarb, und trat bald nach ihrer im 13. Jahre
erfolgten Einsegnung in Dienst, welcher sie nach einigem Wech¬
sel in das Haus eines Schullehrers führte, bei welchem sie
6 Jahre verblieb. Dieser Umstand spricht um so mehr für
ihren sittlichen Charakter, als die Familie, der sie diente, eine
sehr wohlgesinnte war, und ihr eine durchaus freundliche Be¬
handlung zu Theil werden ließ. Da überdies ihre Arbeiten
durchaus nicht das Maaß ihrer Kräfte überboten, so schritt
sie, schon als Kind fast immer gesund, ungehindert in ihrer
geistigen und körperlichen Entwickelung fort, und bewahrte sich
einen sehr lebensfrohen Sinn, welcher fast nie durch ein trau¬
riges Ereigniß getrübt wurde. Vom Vater zum fleißigen Be¬
such des öffentlichen Gottesdienstes angehalten, wurde sie in
letzterem auf eine wohlthätige Weise angeregt; denn ihre durch
gute Predigten erweckte Frömmigkeit, welche sie oft bis zu
Freudenthränen rührte, nahm einen sehr heitern Charakter an,
so daß sie sich Gott stets unter dem Bilde eines liebenden
Vaters vorstellte, in dessen Nähe sie zu weilen, ja mit wel¬

11.

L ., 32 Jahre alt, iſt die Tochter eines hieſigen Tafel¬
deckers, deſſen oft nur ſpaͤrlicher Erwerb eine große Einſchraͤn¬
kung des Hausweſens bei einer Familie von 4 Kindern noͤ¬
thig machte. Dennoch herrſchte in letzterer ein heiterer Sinn
und ſittlicher Geiſt, welchen der Vater dadurch ſtets rege er¬
hielt, daß er ſeinen in Dienſt getretenen Toͤchtern jeden Be¬
ſuch oͤffentlicher Vergnuͤgungsorte mit der Drohung unterſagte,
die ſeinem Befehl Ungehorſame ſofort verſtoßen zu wollen.
Dafuͤr ſorgte er durch Spiel auf der Geige, welche zum Tanze
mit Hausfreunden aufforderte, und durch andere unſchuldige
Erheiterungen dafuͤr, daß der Frohſinn unter den Seinigen
einheimiſch blieb, und ſeine mit Ernſt gepaarte herzliche Freund¬
lichkeit erwarb ihm die Liebe derſelben in einem ſo hohen Grade,
daß ſie ſich in ſeiner Naͤhe am gluͤcklichſten fuͤhlten. Insbe¬
ſondere war unſere Kranke ſein Liebling, weil ſie ſich durch
Munterkeit und witzige Einfaͤlle vor ihren Geſchwiſtern aus¬
zeichnete. Sie konnte nur mehrere Jahre hindurch eine Ar¬
menſchule beſuchen, in welcher ſie ſich die nothwendigſten Ele¬
mentarkenntniſſe erwarb, und trat bald nach ihrer im 13. Jahre
erfolgten Einſegnung in Dienſt, welcher ſie nach einigem Wech¬
ſel in das Haus eines Schullehrers fuͤhrte, bei welchem ſie
6 Jahre verblieb. Dieſer Umſtand ſpricht um ſo mehr fuͤr
ihren ſittlichen Charakter, als die Familie, der ſie diente, eine
ſehr wohlgeſinnte war, und ihr eine durchaus freundliche Be¬
handlung zu Theil werden ließ. Da uͤberdies ihre Arbeiten
durchaus nicht das Maaß ihrer Kraͤfte uͤberboten, ſo ſchritt
ſie, ſchon als Kind faſt immer geſund, ungehindert in ihrer
geiſtigen und koͤrperlichen Entwickelung fort, und bewahrte ſich
einen ſehr lebensfrohen Sinn, welcher faſt nie durch ein trau¬
riges Ereigniß getruͤbt wurde. Vom Vater zum fleißigen Be¬
ſuch des oͤffentlichen Gottesdienſtes angehalten, wurde ſie in
letzterem auf eine wohlthaͤtige Weiſe angeregt; denn ihre durch
gute Predigten erweckte Froͤmmigkeit, welche ſie oft bis zu
Freudenthraͤnen ruͤhrte, nahm einen ſehr heitern Charakter an,
ſo daß ſie ſich Gott ſtets unter dem Bilde eines liebenden
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[127/0135] 11. L ., 32 Jahre alt, iſt die Tochter eines hieſigen Tafel¬ deckers, deſſen oft nur ſpaͤrlicher Erwerb eine große Einſchraͤn¬ kung des Hausweſens bei einer Familie von 4 Kindern noͤ¬ thig machte. Dennoch herrſchte in letzterer ein heiterer Sinn und ſittlicher Geiſt, welchen der Vater dadurch ſtets rege er¬ hielt, daß er ſeinen in Dienſt getretenen Toͤchtern jeden Be¬ ſuch oͤffentlicher Vergnuͤgungsorte mit der Drohung unterſagte, die ſeinem Befehl Ungehorſame ſofort verſtoßen zu wollen. Dafuͤr ſorgte er durch Spiel auf der Geige, welche zum Tanze mit Hausfreunden aufforderte, und durch andere unſchuldige Erheiterungen dafuͤr, daß der Frohſinn unter den Seinigen einheimiſch blieb, und ſeine mit Ernſt gepaarte herzliche Freund¬ lichkeit erwarb ihm die Liebe derſelben in einem ſo hohen Grade, daß ſie ſich in ſeiner Naͤhe am gluͤcklichſten fuͤhlten. Insbe¬ ſondere war unſere Kranke ſein Liebling, weil ſie ſich durch Munterkeit und witzige Einfaͤlle vor ihren Geſchwiſtern aus¬ zeichnete. Sie konnte nur mehrere Jahre hindurch eine Ar¬ menſchule beſuchen, in welcher ſie ſich die nothwendigſten Ele¬ mentarkenntniſſe erwarb, und trat bald nach ihrer im 13. Jahre erfolgten Einſegnung in Dienſt, welcher ſie nach einigem Wech¬ ſel in das Haus eines Schullehrers fuͤhrte, bei welchem ſie 6 Jahre verblieb. Dieſer Umſtand ſpricht um ſo mehr fuͤr ihren ſittlichen Charakter, als die Familie, der ſie diente, eine ſehr wohlgeſinnte war, und ihr eine durchaus freundliche Be¬ handlung zu Theil werden ließ. Da uͤberdies ihre Arbeiten durchaus nicht das Maaß ihrer Kraͤfte uͤberboten, ſo ſchritt ſie, ſchon als Kind faſt immer geſund, ungehindert in ihrer geiſtigen und koͤrperlichen Entwickelung fort, und bewahrte ſich einen ſehr lebensfrohen Sinn, welcher faſt nie durch ein trau¬ riges Ereigniß getruͤbt wurde. Vom Vater zum fleißigen Be¬ ſuch des oͤffentlichen Gottesdienſtes angehalten, wurde ſie in letzterem auf eine wohlthaͤtige Weiſe angeregt; denn ihre durch gute Predigten erweckte Froͤmmigkeit, welche ſie oft bis zu Freudenthraͤnen ruͤhrte, nahm einen ſehr heitern Charakter an, ſo daß ſie ſich Gott ſtets unter dem Bilde eines liebenden Vaters vorſtellte, in deſſen Naͤhe ſie zu weilen, ja mit wel¬

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Zitationshilfe: Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847, S. 127. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/135>, abgerufen am 28.03.2024.