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Keller, Gottfried: Sieben Legenden. Stuttgart, 1872.

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als Dorothea ihn kaum mehr anzublicken vermochte
und er ihr mehr zuwider geworden zu sein schien,
als das Unglück selbst. Allein er zog sich deßhalb
nicht zurück; vielmehr steigerte er seine Zudringlich¬
keit, indem er zugleich anfing, wegen ihres neuen
Glaubens zu zanken und ihr Gewissen zu bedrängen,
Schmeicheleien mit schlecht verhehlten Bedrohungen
vermischend.

Dorothea jedoch bekannte sich offen und furchtlos
zu ihrem Glauben und wendete sich von ihm weg,
wie von einem wesenlosen Schatten, den man nicht sieht.

Theophil hörte von all diesem und wie das gute
Mädchen nicht die besten Tage hätte. Am meisten
überraschte ihn die Kunde, daß sie von dem Pro¬
konsul schlechterdings nichts wissen wolle. Obgleich
er in Ansehung der Religion altweltlich oder gleich¬
gültig gesinnt war, nahm er doch kein Aergerniß an
dem neuen Glauben des Mädchens und begann voll
Theilnahme sich wieder mehr zu nähern, um etwa
besser zu sehen und zu hören, wie es ihr ginge. Aber
wo sie stand und ging, sprach sie jetzt nichts, als
in den zärtlichsten und sehnsüchtigsten Ausdrücken
von einem himmlischen Bräutigam, den sie gefunden,
der in unsterblicher Schönheit ihrer warte, um sie
an seine leuchtende Brust zu nehmen und ihr die
Rose des ewigen Lebens zu reichen u. s. w.

Keller, Sieben Legenden. 9

als Dorothea ihn kaum mehr anzublicken vermochte
und er ihr mehr zuwider geworden zu ſein ſchien,
als das Unglück ſelbſt. Allein er zog ſich deßhalb
nicht zurück; vielmehr ſteigerte er ſeine Zudringlich¬
keit, indem er zugleich anfing, wegen ihres neuen
Glaubens zu zanken und ihr Gewiſſen zu bedrängen,
Schmeicheleien mit ſchlecht verhehlten Bedrohungen
vermiſchend.

Dorothea jedoch bekannte ſich offen und furchtlos
zu ihrem Glauben und wendete ſich von ihm weg,
wie von einem weſenloſen Schatten, den man nicht ſieht.

Theophil hörte von all dieſem und wie das gute
Mädchen nicht die beſten Tage hätte. Am meiſten
überraſchte ihn die Kunde, daß ſie von dem Pro¬
konſul ſchlechterdings nichts wiſſen wolle. Obgleich
er in Anſehung der Religion altweltlich oder gleich¬
gültig geſinnt war, nahm er doch kein Aergerniß an
dem neuen Glauben des Mädchens und begann voll
Theilnahme ſich wieder mehr zu nähern, um etwa
beſſer zu ſehen und zu hören, wie es ihr ginge. Aber
wo ſie ſtand und ging, ſprach ſie jetzt nichts, als
in den zärtlichſten und ſehnſüchtigſten Ausdrücken
von einem himmliſchen Bräutigam, den ſie gefunden,
der in unſterblicher Schönheit ihrer warte, um ſie
an ſeine leuchtende Bruſt zu nehmen und ihr die
Roſe des ewigen Lebens zu reichen u. ſ. w.

Keller, Sieben Legenden. 9
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[129/0143] als Dorothea ihn kaum mehr anzublicken vermochte und er ihr mehr zuwider geworden zu ſein ſchien, als das Unglück ſelbſt. Allein er zog ſich deßhalb nicht zurück; vielmehr ſteigerte er ſeine Zudringlich¬ keit, indem er zugleich anfing, wegen ihres neuen Glaubens zu zanken und ihr Gewiſſen zu bedrängen, Schmeicheleien mit ſchlecht verhehlten Bedrohungen vermiſchend. Dorothea jedoch bekannte ſich offen und furchtlos zu ihrem Glauben und wendete ſich von ihm weg, wie von einem weſenloſen Schatten, den man nicht ſieht. Theophil hörte von all dieſem und wie das gute Mädchen nicht die beſten Tage hätte. Am meiſten überraſchte ihn die Kunde, daß ſie von dem Pro¬ konſul ſchlechterdings nichts wiſſen wolle. Obgleich er in Anſehung der Religion altweltlich oder gleich¬ gültig geſinnt war, nahm er doch kein Aergerniß an dem neuen Glauben des Mädchens und begann voll Theilnahme ſich wieder mehr zu nähern, um etwa beſſer zu ſehen und zu hören, wie es ihr ginge. Aber wo ſie ſtand und ging, ſprach ſie jetzt nichts, als in den zärtlichſten und ſehnſüchtigſten Ausdrücken von einem himmliſchen Bräutigam, den ſie gefunden, der in unſterblicher Schönheit ihrer warte, um ſie an ſeine leuchtende Bruſt zu nehmen und ihr die Roſe des ewigen Lebens zu reichen u. ſ. w. Keller, Sieben Legenden. 9

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Sieben Legenden. Stuttgart, 1872, S. 129. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_legenden_1872/143>, abgerufen am 28.03.2024.