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Keller, Gottfried: Sieben Legenden. Stuttgart, 1872.

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Elegien und Sinngedichte auf die musenhafte Er¬
scheinung, und die guten Hyazinthen mußten diese
Verse sorgfältig in goldene Schreibtafeln schreiben
und hinter ihr her tragen.

Mit jedem halben Jahre wurde sie nun schöner
und gelehrter, und bereits lustwandelte sie in
den geheimnißvollen Irrgärten der neuplatonischen
Lehren, als der junge Prokonsul Aquilinus sich in
Eugenia verliebte und sie von ihrem Vater zum
Weibe begehrte. Dieser empfand aber einen solchen
Respekt vor seiner Tochter, daß er trotz des römischen
Vaterrechtes nicht wagte, ihr den mindesten Vorschlag
zu machen und den Freier an ihren eigenen Willen
verwies, obgleich kein Eidam ihm willkommener war,
als Aquilinus.

Aber auch Eugenia hatte seit manchen schönen
Tagen heimlich das Auge auf ihn geworfen, da er
der stattlichste, angesehenste und ritterlichste Mann in
Alexandrien war, der überdies für einen Mann von
Geist und Herz galt.

Doch empfing sie den verliebten Konsul in voller
Ruhe und Würde, umgeben von Pergamentrollen und
ihre Hyazinthen hinter dem Sessel. Der eine trug
ein azurblaues Gewand, der andere ein rosenfarbi¬
ges und sie selbst ein blendend weißes, und ein Fremd¬
ling wäre ungewiß gewesen, ob er drei schöne zarte

Elegien und Sinngedichte auf die muſenhafte Er¬
ſcheinung, und die guten Hyazinthen mußten dieſe
Verſe ſorgfältig in goldene Schreibtafeln ſchreiben
und hinter ihr her tragen.

Mit jedem halben Jahre wurde ſie nun ſchöner
und gelehrter, und bereits luſtwandelte ſie in
den geheimnißvollen Irrgärten der neuplatoniſchen
Lehren, als der junge Prokonſul Aquilinus ſich in
Eugenia verliebte und ſie von ihrem Vater zum
Weibe begehrte. Dieſer empfand aber einen ſolchen
Reſpekt vor ſeiner Tochter, daß er trotz des römiſchen
Vaterrechtes nicht wagte, ihr den mindeſten Vorſchlag
zu machen und den Freier an ihren eigenen Willen
verwies, obgleich kein Eidam ihm willkommener war,
als Aquilinus.

Aber auch Eugenia hatte ſeit manchen ſchönen
Tagen heimlich das Auge auf ihn geworfen, da er
der ſtattlichſte, angeſehenſte und ritterlichſte Mann in
Alexandrien war, der überdies für einen Mann von
Geiſt und Herz galt.

Doch empfing ſie den verliebten Konſul in voller
Ruhe und Würde, umgeben von Pergamentrollen und
ihre Hyazinthen hinter dem Seſſel. Der eine trug
ein azurblaues Gewand, der andere ein roſenfarbi¬
ges und ſie ſelbſt ein blendend weißes, und ein Fremd¬
ling wäre ungewiß geweſen, ob er drei ſchöne zarte

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[5/0019] Elegien und Sinngedichte auf die muſenhafte Er¬ ſcheinung, und die guten Hyazinthen mußten dieſe Verſe ſorgfältig in goldene Schreibtafeln ſchreiben und hinter ihr her tragen. Mit jedem halben Jahre wurde ſie nun ſchöner und gelehrter, und bereits luſtwandelte ſie in den geheimnißvollen Irrgärten der neuplatoniſchen Lehren, als der junge Prokonſul Aquilinus ſich in Eugenia verliebte und ſie von ihrem Vater zum Weibe begehrte. Dieſer empfand aber einen ſolchen Reſpekt vor ſeiner Tochter, daß er trotz des römiſchen Vaterrechtes nicht wagte, ihr den mindeſten Vorſchlag zu machen und den Freier an ihren eigenen Willen verwies, obgleich kein Eidam ihm willkommener war, als Aquilinus. Aber auch Eugenia hatte ſeit manchen ſchönen Tagen heimlich das Auge auf ihn geworfen, da er der ſtattlichſte, angeſehenſte und ritterlichſte Mann in Alexandrien war, der überdies für einen Mann von Geiſt und Herz galt. Doch empfing ſie den verliebten Konſul in voller Ruhe und Würde, umgeben von Pergamentrollen und ihre Hyazinthen hinter dem Seſſel. Der eine trug ein azurblaues Gewand, der andere ein roſenfarbi¬ ges und ſie ſelbſt ein blendend weißes, und ein Fremd¬ ling wäre ungewiß geweſen, ob er drei ſchöne zarte

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Sieben Legenden. Stuttgart, 1872, S. 5. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_legenden_1872/19>, abgerufen am 29.03.2024.