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Kirchhoff, Auguste: Frauenrechte - Volksrechte. Berlin, 1917.

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chen, geheimen und direkten Wahlrechts, das aufgebaut
auf dem proportionalen Wahlsystem eine bessere Ein-
teilung vorsieht und Minoritäten zu Wort kommen läßt.
Nur diesem können wir Frauen zustimmen, wenn es uns
wirklich Ernst ist mit unserm Ruf nach Gerechtigkeit,
und wenn wir den Staat auffassen als eine sittliche Ge-
meinschaft aller Staatsangehörigen, deren Streben und
oberstes Ziel die materielle, geistige und sittliche Wohl-
fahrt der Gesamtheit sein und bleiben muß. Wo ein
Glied leidet am Leibe der Volksgemeinschaft, da leiden
alle. Und so hat ein Staat, der seine Ausgabe wirklich
im idealen Sinne auffaßt, keinerlei Interesse an der
einseitigen Vertretung bestimmter egoistischer Klassen-
bestrebungen auf Kosten anderer. Im Gegenteil: seine
Stärke, seine Gesundheit hängt ab von dem innern Gleich-
gewicht, und gerade deshalb müßte der Staat darauf
bedacht sein, den wirtschaftlich Schwachen ihr Recht
zu sichern. Nur dann ist dem Staate mit dem Frauen-
stimmrecht wirklich gedient, wenn er sich auf alle Kreise
stützen kann: auf die Proletarierin wie auf die begüterte
Frau, auf die Fürstin wie die Fabrikarbeiterin, auf
die reiche Gutsbesitzersfrau wie auf die arme Land-
arbeiterin, auf die Ledige wie die Verheiratete, die be-
rufstätige Frau wie die Hausfrau und Mutter, die Steuer-
zahlerin wie die Steuerfreie. Sie alle haben in Zeiten
schwerster Not sich in den Dienst des Staates gestellt
und ohne die hingebungsvolle Arbeit gerade der untern
Klassen wäre ein Aufrechterhalten unseres Verkehrs
und Wirtschaftslebens ein Ding der Unmöglichkeit ge-
wesen.

Die aber, deren Schultern die schwersten Lasten
tragen, die neben ihren Hausfrauen- und Mutterberuf
noch entstandene Lücken ausfüllen und doppelt und
dreifache Arbeit leisten, die haben auch Werte zu geben
für die Allgemeinheit. Deren Stimmen müssen vor allem
in die Wagschale fallen, wenn es gilt, Wunden an unserm
Volkskörper zu heilen und durch erweiterten Arbeite-
rinnen- und Mutterschutz die Zukunft unseres Volkes
sicher zu stellen.

Jeder fernere gewollte und bewußte Verzicht des
Staates auf lebendige Kräfte, die sich ihm zur verantwort-
lichen Mitarbeit darbieten, bedeutet eine schwere Schä-
digung der ungeheuren Aufgaben, die sich riesengroß

chen, geheimen und direkten Wahlrechts, das aufgebaut
auf dem proportionalen Wahlsystem eine bessere Ein-
teilung vorsieht und Minoritäten zu Wort kommen läßt.
Nur diesem können wir Frauen zustimmen, wenn es uns
wirklich Ernst ist mit unserm Ruf nach Gerechtigkeit,
und wenn wir den Staat auffassen als eine sittliche Ge-
meinschaft aller Staatsangehörigen, deren Streben und
oberstes Ziel die materielle, geistige und sittliche Wohl-
fahrt der Gesamtheit sein und bleiben muß. Wo ein
Glied leidet am Leibe der Volksgemeinschaft, da leiden
alle. Und so hat ein Staat, der seine Ausgabe wirklich
im idealen Sinne auffaßt, keinerlei Interesse an der
einseitigen Vertretung bestimmter egoistischer Klassen-
bestrebungen auf Kosten anderer. Im Gegenteil: seine
Stärke, seine Gesundheit hängt ab von dem innern Gleich-
gewicht, und gerade deshalb müßte der Staat darauf
bedacht sein, den wirtschaftlich Schwachen ihr Recht
zu sichern. Nur dann ist dem Staate mit dem Frauen-
stimmrecht wirklich gedient, wenn er sich auf alle Kreise
stützen kann: auf die Proletarierin wie auf die begüterte
Frau, auf die Fürstin wie die Fabrikarbeiterin, auf
die reiche Gutsbesitzersfrau wie auf die arme Land-
arbeiterin, auf die Ledige wie die Verheiratete, die be-
rufstätige Frau wie die Hausfrau und Mutter, die Steuer-
zahlerin wie die Steuerfreie. Sie alle haben in Zeiten
schwerster Not sich in den Dienst des Staates gestellt
und ohne die hingebungsvolle Arbeit gerade der untern
Klassen wäre ein Aufrechterhalten unseres Verkehrs
und Wirtschaftslebens ein Ding der Unmöglichkeit ge-
wesen.

Die aber, deren Schultern die schwersten Lasten
tragen, die neben ihren Hausfrauen- und Mutterberuf
noch entstandene Lücken ausfüllen und doppelt und
dreifache Arbeit leisten, die haben auch Werte zu geben
für die Allgemeinheit. Deren Stimmen müssen vor allem
in die Wagschale fallen, wenn es gilt, Wunden an unserm
Volkskörper zu heilen und durch erweiterten Arbeite-
rinnen- und Mutterschutz die Zukunft unseres Volkes
sicher zu stellen.

Jeder fernere gewollte und bewußte Verzicht des
Staates auf lebendige Kräfte, die sich ihm zur verantwort-
lichen Mitarbeit darbieten, bedeutet eine schwere Schä-
digung der ungeheuren Aufgaben, die sich riesengroß

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[11/0011] chen, geheimen und direkten Wahlrechts, das aufgebaut auf dem proportionalen Wahlsystem eine bessere Ein- teilung vorsieht und Minoritäten zu Wort kommen läßt. Nur diesem können wir Frauen zustimmen, wenn es uns wirklich Ernst ist mit unserm Ruf nach Gerechtigkeit, und wenn wir den Staat auffassen als eine sittliche Ge- meinschaft aller Staatsangehörigen, deren Streben und oberstes Ziel die materielle, geistige und sittliche Wohl- fahrt der Gesamtheit sein und bleiben muß. Wo ein Glied leidet am Leibe der Volksgemeinschaft, da leiden alle. Und so hat ein Staat, der seine Ausgabe wirklich im idealen Sinne auffaßt, keinerlei Interesse an der einseitigen Vertretung bestimmter egoistischer Klassen- bestrebungen auf Kosten anderer. Im Gegenteil: seine Stärke, seine Gesundheit hängt ab von dem innern Gleich- gewicht, und gerade deshalb müßte der Staat darauf bedacht sein, den wirtschaftlich Schwachen ihr Recht zu sichern. Nur dann ist dem Staate mit dem Frauen- stimmrecht wirklich gedient, wenn er sich auf alle Kreise stützen kann: auf die Proletarierin wie auf die begüterte Frau, auf die Fürstin wie die Fabrikarbeiterin, auf die reiche Gutsbesitzersfrau wie auf die arme Land- arbeiterin, auf die Ledige wie die Verheiratete, die be- rufstätige Frau wie die Hausfrau und Mutter, die Steuer- zahlerin wie die Steuerfreie. Sie alle haben in Zeiten schwerster Not sich in den Dienst des Staates gestellt und ohne die hingebungsvolle Arbeit gerade der untern Klassen wäre ein Aufrechterhalten unseres Verkehrs und Wirtschaftslebens ein Ding der Unmöglichkeit ge- wesen. Die aber, deren Schultern die schwersten Lasten tragen, die neben ihren Hausfrauen- und Mutterberuf noch entstandene Lücken ausfüllen und doppelt und dreifache Arbeit leisten, die haben auch Werte zu geben für die Allgemeinheit. Deren Stimmen müssen vor allem in die Wagschale fallen, wenn es gilt, Wunden an unserm Volkskörper zu heilen und durch erweiterten Arbeite- rinnen- und Mutterschutz die Zukunft unseres Volkes sicher zu stellen. Jeder fernere gewollte und bewußte Verzicht des Staates auf lebendige Kräfte, die sich ihm zur verantwort- lichen Mitarbeit darbieten, bedeutet eine schwere Schä- digung der ungeheuren Aufgaben, die sich riesengroß

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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Texte der ersten Frauenbewegung, betreut von Anna Pfundt und Thomas Gloning, JLU Gießen: Bereitstellung der Texttranskription. (2016-08-12T15:03:55Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Anna Pfundt: Bearbeitung der digitalen Edition. (2016-08-12T15:03:55Z)

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Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: keine Angabe; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): gekennzeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: keine Angabe; Kolumnentitel: keine Angabe; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine Angabe; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: wie Vorlage; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




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Zitationshilfe: Kirchhoff, Auguste: Frauenrechte - Volksrechte. Berlin, 1917, S. 11. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kirchhoff_volksrechte_1917/11>, abgerufen am 18.04.2024.