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Kirchhoff, Auguste: Frauenrechte - Volksrechte. Berlin, 1917.

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Politische Arbeit aber verlangt ein festes Programm.
Solange die Stimmrechtsorganisationen nichts sein wollen
als Vereine zur politischen Schulung der Frau, mag Neu-
tralität gegenüber der Wahlrechtsfrage vielleicht mög-
lich sein, obgleich auch das noch eine offene Frage ist.
Sobald sie aber die Oeffentlichkeit, den Kampfplatz, be-
treten, müssen die Frauen wissen, was für ein Wahl-
recht sie erkämpfen wollen. Da heißt es Stellung neh-
men, Bundesgenossen suchen und in der Richtung vor-
gehen, die den Sieg verheißt.

Prinzipiell gibt es nur zwei Wahlsysteme: ein allge-
meines, gleiches, das allen Volksgenossen ohne Unter-
schied, soweit sie im Besitz ihrer 5 Sinne und keine
Verbrecher sind, zusteht, das logischerweise also
auch die Frauen einschließen müßte, und ein be-
schränktes, ungleiches, wodurch man glaubt, die
besten und geeignetsten Vertreter der Volksgesamt-
heit auswählen zu können. Im Prinzip gewiß sehr
ideal, führt dieses System, abgesehen von der Frage,
wo denn die gerechte, unparteiische und weitschauende
Instanz ist, die die richtige Auswahl trifft, in der Praxis
zur Vergewaltigung der wirtschaftlich Schwachen, mag
es nun, wie das preußische Dreiklassenwahlrecht und
verwandte Systeme sich aufbauen auf der Steuerleistung,
oder wie das im Königreich Sachsen seit 1909 einge-
führte Pluralwahlrecht abgestuft sein nach Bildung, Alter
und Besitz. Denn auch Bildung und Alter sind nicht
unabhängig von materiellen Gütern; ein Arbeiter ist
im ganzen früher verbraucht als der Besitzende, und
der Zusammenhang von Bildung und Besitz erhellt ohne
weiteres. Außerdem ist doch noch sehr die Frage, ob
eine bessere Schulbildung unbedingt größere politische
Reife garantiert, oder ob nicht der mitten im Leben
stehende Angestellte, der Arbeiter, den sein Beruf mit
tausend sozialen Problemen in unmittelbare Berührung
bringt, mehr Verständnis für die Interessen der Allge-
meinheit hat, als der frühere Korpsstudent, der Sohn
wohlhabender Eltern, der des Lebens Not nie am eigenen
Leibe spürte und oft nur seinen studentischen, seinen
Fachinteressen lebte.

In Preußen wählen 82 % der Gesamtbevölkerung in
der dritten Klasse. Was das bedeutet, wird klar, wenn
wir bedenken, daß beispielsweise in der Stadt Charlotten-

Politische Arbeit aber verlangt ein festes Programm.
Solange die Stimmrechtsorganisationen nichts sein wollen
als Vereine zur politischen Schulung der Frau, mag Neu-
tralität gegenüber der Wahlrechtsfrage vielleicht mög-
lich sein, obgleich auch das noch eine offene Frage ist.
Sobald sie aber die Oeffentlichkeit, den Kampfplatz, be-
treten, müssen die Frauen wissen, was für ein Wahl-
recht sie erkämpfen wollen. Da heißt es Stellung neh-
men, Bundesgenossen suchen und in der Richtung vor-
gehen, die den Sieg verheißt.

Prinzipiell gibt es nur zwei Wahlsysteme: ein allge-
meines, gleiches, das allen Volksgenossen ohne Unter-
schied, soweit sie im Besitz ihrer 5 Sinne und keine
Verbrecher sind, zusteht, das logischerweise also
auch die Frauen einschließen müßte, und ein be-
schränktes, ungleiches, wodurch man glaubt, die
besten und geeignetsten Vertreter der Volksgesamt-
heit auswählen zu können. Im Prinzip gewiß sehr
ideal, führt dieses System, abgesehen von der Frage,
wo denn die gerechte, unparteiische und weitschauende
Instanz ist, die die richtige Auswahl trifft, in der Praxis
zur Vergewaltigung der wirtschaftlich Schwachen, mag
es nun, wie das preußische Dreiklassenwahlrecht und
verwandte Systeme sich aufbauen auf der Steuerleistung,
oder wie das im Königreich Sachsen seit 1909 einge-
führte Pluralwahlrecht abgestuft sein nach Bildung, Alter
und Besitz. Denn auch Bildung und Alter sind nicht
unabhängig von materiellen Gütern; ein Arbeiter ist
im ganzen früher verbraucht als der Besitzende, und
der Zusammenhang von Bildung und Besitz erhellt ohne
weiteres. Außerdem ist doch noch sehr die Frage, ob
eine bessere Schulbildung unbedingt größere politische
Reife garantiert, oder ob nicht der mitten im Leben
stehende Angestellte, der Arbeiter, den sein Beruf mit
tausend sozialen Problemen in unmittelbare Berührung
bringt, mehr Verständnis für die Interessen der Allge-
meinheit hat, als der frühere Korpsstudent, der Sohn
wohlhabender Eltern, der des Lebens Not nie am eigenen
Leibe spürte und oft nur seinen studentischen, seinen
Fachinteressen lebte.

In Preußen wählen 82 % der Gesamtbevölkerung in
der dritten Klasse. Was das bedeutet, wird klar, wenn
wir bedenken, daß beispielsweise in der Stadt Charlotten-

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[8/0008] Politische Arbeit aber verlangt ein festes Programm. Solange die Stimmrechtsorganisationen nichts sein wollen als Vereine zur politischen Schulung der Frau, mag Neu- tralität gegenüber der Wahlrechtsfrage vielleicht mög- lich sein, obgleich auch das noch eine offene Frage ist. Sobald sie aber die Oeffentlichkeit, den Kampfplatz, be- treten, müssen die Frauen wissen, was für ein Wahl- recht sie erkämpfen wollen. Da heißt es Stellung neh- men, Bundesgenossen suchen und in der Richtung vor- gehen, die den Sieg verheißt. Prinzipiell gibt es nur zwei Wahlsysteme: ein allge- meines, gleiches, das allen Volksgenossen ohne Unter- schied, soweit sie im Besitz ihrer 5 Sinne und keine Verbrecher sind, zusteht, das logischerweise also auch die Frauen einschließen müßte, und ein be- schränktes, ungleiches, wodurch man glaubt, die besten und geeignetsten Vertreter der Volksgesamt- heit auswählen zu können. Im Prinzip gewiß sehr ideal, führt dieses System, abgesehen von der Frage, wo denn die gerechte, unparteiische und weitschauende Instanz ist, die die richtige Auswahl trifft, in der Praxis zur Vergewaltigung der wirtschaftlich Schwachen, mag es nun, wie das preußische Dreiklassenwahlrecht und verwandte Systeme sich aufbauen auf der Steuerleistung, oder wie das im Königreich Sachsen seit 1909 einge- führte Pluralwahlrecht abgestuft sein nach Bildung, Alter und Besitz. Denn auch Bildung und Alter sind nicht unabhängig von materiellen Gütern; ein Arbeiter ist im ganzen früher verbraucht als der Besitzende, und der Zusammenhang von Bildung und Besitz erhellt ohne weiteres. Außerdem ist doch noch sehr die Frage, ob eine bessere Schulbildung unbedingt größere politische Reife garantiert, oder ob nicht der mitten im Leben stehende Angestellte, der Arbeiter, den sein Beruf mit tausend sozialen Problemen in unmittelbare Berührung bringt, mehr Verständnis für die Interessen der Allge- meinheit hat, als der frühere Korpsstudent, der Sohn wohlhabender Eltern, der des Lebens Not nie am eigenen Leibe spürte und oft nur seinen studentischen, seinen Fachinteressen lebte. In Preußen wählen 82 % der Gesamtbevölkerung in der dritten Klasse. Was das bedeutet, wird klar, wenn wir bedenken, daß beispielsweise in der Stadt Charlotten-

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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Texte der ersten Frauenbewegung, betreut von Anna Pfundt und Thomas Gloning, JLU Gießen: Bereitstellung der Texttranskription. (2016-08-12T15:03:55Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Anna Pfundt: Bearbeitung der digitalen Edition. (2016-08-12T15:03:55Z)

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Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: keine Angabe; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): gekennzeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: keine Angabe; Kolumnentitel: keine Angabe; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine Angabe; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: wie Vorlage; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




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Zitationshilfe: Kirchhoff, Auguste: Frauenrechte - Volksrechte. Berlin, 1917, S. 8. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kirchhoff_volksrechte_1917/8>, abgerufen am 28.03.2024.