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[Klopstock, Friedrich Gottlieb]: Der Messias. Bd. 2. Halle, 1756.

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Zehnter Gesang.

Seine Stirne darauf. Allein er verstummte. So kniet' er
Jn noch trüberer Nacht, als izt die Erde bedeckte.
Lazarus stand an der Oefnung des Grabs, und begann mit sanfter
Leiser Stimme, mit der, die selbst der müdeste Schmerz hört:

Sinke nicht, du Geliebter, nicht ganz in Traurigkeit unter!
Höre mich, hebe dein Antliz aus diesem Grab auf! Ach, kennst du
Meine Stimme nicht mehr? Jch bins, den du immer geliebt hast!
Der so herzlich dich liebt! um den du vor kurzem auch weintest,
Lazarus, den der Gekreuzigte Gottes ins Leben zurückrief.
Ach, mit namlosen Freuden, entzücktem, bebenden Staunen,
Danktest du unserm göttlichen Retter! O denke zurücke!
Augenblicke vorher, eh wir ihm dankten, da lag ich
Noch im Grab, und begann zu verwesen! ... Wir haben es oftmals
Mit einander besprochen; allein es riß dich der Jünger
Meinung mit fort: Es müsse sein Reich ein weltliches Reich seyn,
Eh es könne zum himmlischen werden. Doch löstest du niemals
Ganz den Zweifel mir auf, der meine Seele zurück hielt,
Jn den Worten was Jrrdisches mühsam zu suchen, in denen
Unser göttlicher Freund viel klärer vom Himmlischen redte!
Winde von deinem Jammer dich los, du Geliebter! Erkläre
Mich nicht anders, als es dieß mit dir weinende Herz meint!
Ja, du sollst ihn beweinen, den Göttlichen sollst du beweinen!
Denn er ist unaussprechlich, der Schmerz, mit dem er am Kreuze,
Nun schon stundenlang, stirbt! Doch must du unter dem Jammer,
Nicht erliegen! ... Er kann, wenn er will, vom Kreuze noch steigen!
Oder, wenn er entschläft, ists möglich, daß er verwese?
Jesus,

Zehnter Geſang.

Seine Stirne darauf. Allein er verſtummte. So kniet’ er
Jn noch truͤberer Nacht, als izt die Erde bedeckte.
Lazarus ſtand an der Oefnung des Grabs, und begann mit ſanfter
Leiſer Stimme, mit der, die ſelbſt der muͤdeſte Schmerz hoͤrt:

Sinke nicht, du Geliebter, nicht ganz in Traurigkeit unter!
Hoͤre mich, hebe dein Antliz aus dieſem Grab auf! Ach, kennſt du
Meine Stimme nicht mehr? Jch bins, den du immer geliebt haſt!
Der ſo herzlich dich liebt! um den du vor kurzem auch weinteſt,
Lazarus, den der Gekreuzigte Gottes ins Leben zuruͤckrief.
Ach, mit namloſen Freuden, entzuͤcktem, bebenden Staunen,
Dankteſt du unſerm goͤttlichen Retter! O denke zuruͤcke!
Augenblicke vorher, eh wir ihm dankten, da lag ich
Noch im Grab, und begann zu verweſen! … Wir haben es oftmals
Mit einander beſprochen; allein es riß dich der Juͤnger
Meinung mit fort: Es muͤſſe ſein Reich ein weltliches Reich ſeyn,
Eh es koͤnne zum himmliſchen werden. Doch loͤſteſt du niemals
Ganz den Zweifel mir auf, der meine Seele zuruͤck hielt,
Jn den Worten was Jrrdiſches muͤhſam zu ſuchen, in denen
Unſer goͤttlicher Freund viel klaͤrer vom Himmliſchen redte!
Winde von deinem Jammer dich los, du Geliebter! Erklaͤre
Mich nicht anders, als es dieß mit dir weinende Herz meint!
Ja, du ſollſt ihn beweinen, den Goͤttlichen ſollſt du beweinen!
Denn er iſt unausſprechlich, der Schmerz, mit dem er am Kreuze,
Nun ſchon ſtundenlang, ſtirbt! Doch muſt du unter dem Jammer,
Nicht erliegen! … Er kann, wenn er will, vom Kreuze noch ſteigen!
Oder, wenn er entſchlaͤft, iſts moͤglich, daß er verweſe?
Jeſus,
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[143/0173] Zehnter Geſang. Seine Stirne darauf. Allein er verſtummte. So kniet’ er Jn noch truͤberer Nacht, als izt die Erde bedeckte. Lazarus ſtand an der Oefnung des Grabs, und begann mit ſanfter Leiſer Stimme, mit der, die ſelbſt der muͤdeſte Schmerz hoͤrt: Sinke nicht, du Geliebter, nicht ganz in Traurigkeit unter! Hoͤre mich, hebe dein Antliz aus dieſem Grab auf! Ach, kennſt du Meine Stimme nicht mehr? Jch bins, den du immer geliebt haſt! Der ſo herzlich dich liebt! um den du vor kurzem auch weinteſt, Lazarus, den der Gekreuzigte Gottes ins Leben zuruͤckrief. Ach, mit namloſen Freuden, entzuͤcktem, bebenden Staunen, Dankteſt du unſerm goͤttlichen Retter! O denke zuruͤcke! Augenblicke vorher, eh wir ihm dankten, da lag ich Noch im Grab, und begann zu verweſen! … Wir haben es oftmals Mit einander beſprochen; allein es riß dich der Juͤnger Meinung mit fort: Es muͤſſe ſein Reich ein weltliches Reich ſeyn, Eh es koͤnne zum himmliſchen werden. Doch loͤſteſt du niemals Ganz den Zweifel mir auf, der meine Seele zuruͤck hielt, Jn den Worten was Jrrdiſches muͤhſam zu ſuchen, in denen Unſer goͤttlicher Freund viel klaͤrer vom Himmliſchen redte! Winde von deinem Jammer dich los, du Geliebter! Erklaͤre Mich nicht anders, als es dieß mit dir weinende Herz meint! Ja, du ſollſt ihn beweinen, den Goͤttlichen ſollſt du beweinen! Denn er iſt unausſprechlich, der Schmerz, mit dem er am Kreuze, Nun ſchon ſtundenlang, ſtirbt! Doch muſt du unter dem Jammer, Nicht erliegen! … Er kann, wenn er will, vom Kreuze noch ſteigen! Oder, wenn er entſchlaͤft, iſts moͤglich, daß er verweſe? Jeſus,

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Zitationshilfe: [Klopstock, Friedrich Gottlieb]: Der Messias. Bd. 2. Halle, 1756, S. 143. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/klopstock_messias02_1756/173>, abgerufen am 29.03.2024.