Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Klopstock, Friedrich Gottlieb]: Der Messias. Bd. 2. Halle, 1756.

Bild:
<< vorherige Seite

Zehnter Gesang.

Jesus Christus, den keiner der Engel, wie sehr sie auch streben,
Und wie hoch sie auch über die Stufen der Menschen erhöht stehn,
Keiner ganz zu erkennen vermag, den Gott allein kennt!
Gottes Sohn, nun sollt' er sterben! Die Seelen, für die er
Sterben sollte, sie sanken, zu ihres Lebens am Staube,
Zu der Empfindung der Sünde, so tief sie konnten, herunter.
Die Erinnrung umgab sie mit allen ihren Entsetzen.
Zwar sie waren versönt, sie empfandens, daß sie es waren:
Doch izt sollte, für sie, der grosse Versöner ... sterben! ...

Ganz von diesem Gefühle durchdrungen stüzte sich Henoch
Mit der Link auf ein Grab, und streckte die Rechte gen Himmel.
Henoch, wie göttlich sein Wandel auch war gewesen, und ob ihn
Gleich der Tod nicht getödtet, verstäubt die Verwesung nicht hatte;
War er doch vor dem Richter nicht rein gewesen! Der Glauben,
Handelnder Glauben ans Heil, das izt dem Tode sich nahte,
Hatte den Sohn von Adam ins ewige Leben gerettet.
Wären die Erden um ihn, um ihn die Sonnen, versunken:
Er hätts unerschüttert gesehn! Allein, des Versöners
Näherer Tod, durchströmte sein innerstes Wesen mit Trauern!
Und die Engel, die Väter, die Seelen, die Sterblichen, alle
Schwanden ihm! Kaum, daß sein Auge noch den, der blutet', erkannte!
Neben ihm neigte sich Abel an einen Felsen, und hielt sich.
Zwar von Adam gezeugt; doch so unschuldig, als einer,
Welcher noch nicht vollendet ist, seyn kann, hatt' er sein Leben
Gott geheiligt, und war durch Mörderhände gestorben!
Ach! zu dem im Tode sein leztes Röcheln gerufen,
Den er angefleht hatte, da er im rauchenden Blut lag,
Unter
K 2

Zehnter Geſang.

Jeſus Chriſtus, den keiner der Engel, wie ſehr ſie auch ſtreben,
Und wie hoch ſie auch uͤber die Stufen der Menſchen erhoͤht ſtehn,
Keiner ganz zu erkennen vermag, den Gott allein kennt!
Gottes Sohn, nun ſollt’ er ſterben! Die Seelen, fuͤr die er
Sterben ſollte, ſie ſanken, zu ihres Lebens am Staube,
Zu der Empfindung der Suͤnde, ſo tief ſie konnten, herunter.
Die Erinnrung umgab ſie mit allen ihren Entſetzen.
Zwar ſie waren verſoͤnt, ſie empfandens, daß ſie es waren:
Doch izt ſollte, fuͤr ſie, der groſſe Verſoͤner … ſterben! …

Ganz von dieſem Gefuͤhle durchdrungen ſtuͤzte ſich Henoch
Mit der Link auf ein Grab, und ſtreckte die Rechte gen Himmel.
Henoch, wie goͤttlich ſein Wandel auch war geweſen, und ob ihn
Gleich der Tod nicht getoͤdtet, verſtaͤubt die Verweſung nicht hatte;
War er doch vor dem Richter nicht rein geweſen! Der Glauben,
Handelnder Glauben ans Heil, das izt dem Tode ſich nahte,
Hatte den Sohn von Adam ins ewige Leben gerettet.
Waͤren die Erden um ihn, um ihn die Sonnen, verſunken:
Er haͤtts unerſchuͤttert geſehn! Allein, des Verſoͤners
Naͤherer Tod, durchſtroͤmte ſein innerſtes Weſen mit Trauern!
Und die Engel, die Vaͤter, die Seelen, die Sterblichen, alle
Schwanden ihm! Kaum, daß ſein Auge noch den, der blutet’, erkannte!
Neben ihm neigte ſich Abel an einen Felſen, und hielt ſich.
Zwar von Adam gezeugt; doch ſo unſchuldig, als einer,
Welcher noch nicht vollendet iſt, ſeyn kann, hatt’ er ſein Leben
Gott geheiligt, und war durch Moͤrderhaͤnde geſtorben!
Ach! zu dem im Tode ſein leztes Roͤcheln gerufen,
Den er angefleht hatte, da er im rauchenden Blut lag,
Unter
K 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <lg type="poem">
            <lg n="57">
              <l>
                <pb facs="#f0177" n="147"/>
                <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">Zehnter Ge&#x017F;ang.</hi> </fw>
              </l><lb/>
              <l>Je&#x017F;us Chri&#x017F;tus, den keiner der Engel, wie &#x017F;ehr &#x017F;ie auch &#x017F;treben,</l><lb/>
              <l>Und wie hoch &#x017F;ie auch u&#x0364;ber die Stufen der Men&#x017F;chen erho&#x0364;ht &#x017F;tehn,</l><lb/>
              <l>Keiner ganz zu erkennen vermag, den Gott allein kennt!</l><lb/>
              <l>Gottes Sohn, nun &#x017F;ollt&#x2019; er &#x017F;terben! Die Seelen, fu&#x0364;r die er</l><lb/>
              <l>Sterben &#x017F;ollte, &#x017F;ie &#x017F;anken, zu ihres Lebens am Staube,</l><lb/>
              <l>Zu der Empfindung der Su&#x0364;nde, &#x017F;o tief &#x017F;ie konnten, herunter.</l><lb/>
              <l>Die Erinnrung umgab &#x017F;ie mit allen ihren Ent&#x017F;etzen.</l><lb/>
              <l>Zwar &#x017F;ie waren ver&#x017F;o&#x0364;nt, &#x017F;ie empfandens, daß &#x017F;ie es waren:</l><lb/>
              <l>Doch izt &#x017F;ollte, fu&#x0364;r &#x017F;ie, der gro&#x017F;&#x017F;e Ver&#x017F;o&#x0364;ner &#x2026; &#x017F;terben! &#x2026;</l>
            </lg><lb/>
            <lg n="58">
              <l>Ganz von die&#x017F;em Gefu&#x0364;hle durchdrungen &#x017F;tu&#x0364;zte &#x017F;ich Henoch</l><lb/>
              <l>Mit der Link auf ein Grab, und &#x017F;treckte die Rechte gen Himmel.</l><lb/>
              <l>Henoch, wie go&#x0364;ttlich &#x017F;ein Wandel auch war gewe&#x017F;en, und ob ihn</l><lb/>
              <l>Gleich der Tod nicht geto&#x0364;dtet, ver&#x017F;ta&#x0364;ubt die Verwe&#x017F;ung nicht hatte;</l><lb/>
              <l>War er doch vor dem Richter nicht rein gewe&#x017F;en! Der Glauben,</l><lb/>
              <l>Handelnder Glauben ans Heil, das izt dem Tode &#x017F;ich nahte,</l><lb/>
              <l>Hatte den Sohn von Adam ins ewige Leben gerettet.</l><lb/>
              <l>Wa&#x0364;ren die Erden um ihn, um ihn die Sonnen, ver&#x017F;unken:</l><lb/>
              <l>Er ha&#x0364;tts uner&#x017F;chu&#x0364;ttert ge&#x017F;ehn! Allein, des Ver&#x017F;o&#x0364;ners</l><lb/>
              <l>Na&#x0364;herer Tod, durch&#x017F;tro&#x0364;mte &#x017F;ein inner&#x017F;tes We&#x017F;en mit Trauern!</l><lb/>
              <l>Und die Engel, die Va&#x0364;ter, die Seelen, die Sterblichen, alle</l><lb/>
              <l>Schwanden ihm! Kaum, daß &#x017F;ein Auge noch den, der blutet&#x2019;, erkannte!</l>
            </lg><lb/>
            <lg n="59">
              <l>Neben ihm neigte &#x017F;ich Abel an einen Fel&#x017F;en, und hielt &#x017F;ich.</l><lb/>
              <l>Zwar von Adam gezeugt; doch &#x017F;o un&#x017F;chuldig, als einer,</l><lb/>
              <l>Welcher noch nicht vollendet i&#x017F;t, &#x017F;eyn kann, hatt&#x2019; er &#x017F;ein Leben</l><lb/>
              <l>Gott geheiligt, und war durch Mo&#x0364;rderha&#x0364;nde ge&#x017F;torben!</l><lb/>
              <l>Ach! zu dem im Tode &#x017F;ein leztes Ro&#x0364;cheln gerufen,</l><lb/>
              <l>Den er angefleht hatte, da er im rauchenden Blut lag,<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">K 2</fw><fw place="bottom" type="catch">Unter</fw><lb/></l>
            </lg>
          </lg>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[147/0177] Zehnter Geſang. Jeſus Chriſtus, den keiner der Engel, wie ſehr ſie auch ſtreben, Und wie hoch ſie auch uͤber die Stufen der Menſchen erhoͤht ſtehn, Keiner ganz zu erkennen vermag, den Gott allein kennt! Gottes Sohn, nun ſollt’ er ſterben! Die Seelen, fuͤr die er Sterben ſollte, ſie ſanken, zu ihres Lebens am Staube, Zu der Empfindung der Suͤnde, ſo tief ſie konnten, herunter. Die Erinnrung umgab ſie mit allen ihren Entſetzen. Zwar ſie waren verſoͤnt, ſie empfandens, daß ſie es waren: Doch izt ſollte, fuͤr ſie, der groſſe Verſoͤner … ſterben! … Ganz von dieſem Gefuͤhle durchdrungen ſtuͤzte ſich Henoch Mit der Link auf ein Grab, und ſtreckte die Rechte gen Himmel. Henoch, wie goͤttlich ſein Wandel auch war geweſen, und ob ihn Gleich der Tod nicht getoͤdtet, verſtaͤubt die Verweſung nicht hatte; War er doch vor dem Richter nicht rein geweſen! Der Glauben, Handelnder Glauben ans Heil, das izt dem Tode ſich nahte, Hatte den Sohn von Adam ins ewige Leben gerettet. Waͤren die Erden um ihn, um ihn die Sonnen, verſunken: Er haͤtts unerſchuͤttert geſehn! Allein, des Verſoͤners Naͤherer Tod, durchſtroͤmte ſein innerſtes Weſen mit Trauern! Und die Engel, die Vaͤter, die Seelen, die Sterblichen, alle Schwanden ihm! Kaum, daß ſein Auge noch den, der blutet’, erkannte! Neben ihm neigte ſich Abel an einen Felſen, und hielt ſich. Zwar von Adam gezeugt; doch ſo unſchuldig, als einer, Welcher noch nicht vollendet iſt, ſeyn kann, hatt’ er ſein Leben Gott geheiligt, und war durch Moͤrderhaͤnde geſtorben! Ach! zu dem im Tode ſein leztes Roͤcheln gerufen, Den er angefleht hatte, da er im rauchenden Blut lag, Unter K 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/klopstock_messias02_1756
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/klopstock_messias02_1756/177
Zitationshilfe: [Klopstock, Friedrich Gottlieb]: Der Messias. Bd. 2. Halle, 1756, S. 147. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/klopstock_messias02_1756/177>, abgerufen am 25.04.2024.