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Knüppeln, Julius Friedrich: Die Rechte der Natur und Menschheit, entweiht durch Menschen. Berlin, 1784.

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dem Andenken des Unglüklichen, der auch ein
Mensch und mein Bruder war; zugleich aber
ward der Wunsch in mir rege, hinzugehn und
zu fragen: warum ward dieser Mensch von
Menschen verlassen? Warum ward er ge-
opfert?
Das war meine erste Frage, wie ich
ins Wirtshaus des nächsten Flekkens trat, und
man antwortete mir: Ein Mädchen von
zwanzig Jahren, die ihr junges Kind
würgte.
Jch hörte zum Teil lieblose Urteile --
zum Teil schale Sittensprüche, aus dem Munde
harter Matronen -- hie und da fand ich einiges
Mitleid -- ein Achselzukken, und nichts weiter
-- nicht wie fiel sie, wodurch, und durch
wen fiel sie?
Und doch sollte man diese Fragen
genau beherzigen, ehe man das Verdammungs-
urteil mit kaltem höhnischen Lächeln aussties.
Aber da stehen die kalten fühllosen Menschen,
predigen Tugend, und haben die Tugend nie ge-
kannt, die aus dem Herzen keimt, die nicht im
äussern Prunk von Worten, sondern im Han-
deln und Würken, in Ausübung der Menschen-
liebe besteht. Da hat die schaffende Natur sich
in der Stunde der Schöpfung wol im Ton ver-
griffen, und daher entstanden Menschen dem

Körper,

dem Andenken des Ungluͤklichen, der auch ein
Menſch und mein Bruder war; zugleich aber
ward der Wunſch in mir rege, hinzugehn und
zu fragen: warum ward dieſer Menſch von
Menſchen verlaſſen? Warum ward er ge-
opfert?
Das war meine erſte Frage, wie ich
ins Wirtshaus des naͤchſten Flekkens trat, und
man antwortete mir: Ein Maͤdchen von
zwanzig Jahren, die ihr junges Kind
wuͤrgte.
Jch hoͤrte zum Teil liebloſe Urteile —
zum Teil ſchale Sittenſpruͤche, aus dem Munde
harter Matronen — hie und da fand ich einiges
Mitleid — ein Achſelzukken, und nichts weiter
nicht wie fiel ſie, wodurch, und durch
wen fiel ſie?
Und doch ſollte man dieſe Fragen
genau beherzigen, ehe man das Verdammungs-
urteil mit kaltem hoͤhniſchen Laͤcheln ausſties.
Aber da ſtehen die kalten fuͤhlloſen Menſchen,
predigen Tugend, und haben die Tugend nie ge-
kannt, die aus dem Herzen keimt, die nicht im
aͤuſſern Prunk von Worten, ſondern im Han-
deln und Wuͤrken, in Ausuͤbung der Menſchen-
liebe beſteht. Da hat die ſchaffende Natur ſich
in der Stunde der Schoͤpfung wol im Ton ver-
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[48/0056] dem Andenken des Ungluͤklichen, der auch ein Menſch und mein Bruder war; zugleich aber ward der Wunſch in mir rege, hinzugehn und zu fragen: warum ward dieſer Menſch von Menſchen verlaſſen? Warum ward er ge- opfert? Das war meine erſte Frage, wie ich ins Wirtshaus des naͤchſten Flekkens trat, und man antwortete mir: Ein Maͤdchen von zwanzig Jahren, die ihr junges Kind wuͤrgte. Jch hoͤrte zum Teil liebloſe Urteile — zum Teil ſchale Sittenſpruͤche, aus dem Munde harter Matronen — hie und da fand ich einiges Mitleid — ein Achſelzukken, und nichts weiter — nicht wie fiel ſie, wodurch, und durch wen fiel ſie? Und doch ſollte man dieſe Fragen genau beherzigen, ehe man das Verdammungs- urteil mit kaltem hoͤhniſchen Laͤcheln ausſties. Aber da ſtehen die kalten fuͤhlloſen Menſchen, predigen Tugend, und haben die Tugend nie ge- kannt, die aus dem Herzen keimt, die nicht im aͤuſſern Prunk von Worten, ſondern im Han- deln und Wuͤrken, in Ausuͤbung der Menſchen- liebe beſteht. Da hat die ſchaffende Natur ſich in der Stunde der Schoͤpfung wol im Ton ver- griffen, und daher entſtanden Menſchen dem Koͤrper,

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Zitationshilfe: Knüppeln, Julius Friedrich: Die Rechte der Natur und Menschheit, entweiht durch Menschen. Berlin, 1784, S. 48. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/knueppeln_rechte_1784/56>, abgerufen am 19.04.2024.