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Kotzebue, August von: Erinnerungen aus Paris im Jahre 1804. Bd. 1. Berlin, 1804.

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Da kam der siebenjährige Krieg, mit ihm Noth und Elend.
Sie verlor alles Jhrige, sie darbte und behielt frohen
Muth. Sie sah ihre Kinder sterben und hielt sich noch
aufrecht. Endlich starb auch der Mann: das warf sie
nieder. Eine lange Krankheit fraß den Rest ihres Ver-
mögens. Nackt und blos mußte sie ihren Wohnort ver-
lassen. Man rieth ihr, zu ihrem Schwager zu gehen,
der Appellationsrath in Darmstadt war. Sie kannte ihn
nicht, ein wunderlicher Heiliger sollte er seyn; sie wagte
es, weil die Noth sie drang. Von armen Freunden kärg-
lich unterstützt, (denn, sagte sie, niemand hatte mehr,
etwas zu geben) brachte sie die Reisekosten auf und kam
mit dem Postwagen nach Darmstadt. Bebend tritt sie vor
die Thür ihres Schwagers. Eine Magd empfängt sie ver-
legen, weis't ihr jedoch ein gutes Zimmer an, und bringt
ihr Erfrischungen. Sie bleibt mehrere Stunden allein;
kein Schwager läßt sich sehen. Gegen die Nacht trägt
die Magd ein gutes Abendessen auf; sie aber kann vor
Bangigkeit und Wehmuth nicht essen, sondern fragt nur
immer nach ihrem Schwager. Morgen, morgen, sagt die
Magd, die ihre Aengstlichkeit gewahr wird und theilt:
schlafen Sie nur erst ruhig aus. Sie bedürfen der Er-
quickung. Sie schläft nicht. Der Morgen kommt, da
tritt das sämmtliche Hausgesinde zu ihr herein und be-
kennt ihr weinend, der Schwager sey vor vierzehn Tagen
begraben worden, und habe durch ein Testament sein gan-
zes ansehnliches Vermögen zu milden Stiftungen ver-
macht. -- Hier fieng die Frau bitterlich an zu weinen:
ich kann noch immer nicht sterben! sagte sie. -- Mir ist
entfallen, wie sie in die Gegend kam, in der sie nun
seit fast fünfzig Jahren hungert und nicht
sterben kann.
Von Heidelberg aus wurde sie lange

Da kam der siebenjaͤhrige Krieg, mit ihm Noth und Elend.
Sie verlor alles Jhrige, sie darbte und behielt frohen
Muth. Sie sah ihre Kinder sterben und hielt sich noch
aufrecht. Endlich starb auch der Mann: das warf sie
nieder. Eine lange Krankheit fraß den Rest ihres Ver-
moͤgens. Nackt und blos mußte sie ihren Wohnort ver-
lassen. Man rieth ihr, zu ihrem Schwager zu gehen,
der Appellationsrath in Darmstadt war. Sie kannte ihn
nicht, ein wunderlicher Heiliger sollte er seyn; sie wagte
es, weil die Noth sie drang. Von armen Freunden kaͤrg-
lich unterstuͤtzt, (denn, sagte sie, niemand hatte mehr,
etwas zu geben) brachte sie die Reisekosten auf und kam
mit dem Postwagen nach Darmstadt. Bebend tritt sie vor
die Thuͤr ihres Schwagers. Eine Magd empfaͤngt sie ver-
legen, weis't ihr jedoch ein gutes Zimmer an, und bringt
ihr Erfrischungen. Sie bleibt mehrere Stunden allein;
kein Schwager laͤßt sich sehen. Gegen die Nacht traͤgt
die Magd ein gutes Abendessen auf; sie aber kann vor
Bangigkeit und Wehmuth nicht essen, sondern fragt nur
immer nach ihrem Schwager. Morgen, morgen, sagt die
Magd, die ihre Aengstlichkeit gewahr wird und theilt:
schlafen Sie nur erst ruhig aus. Sie beduͤrfen der Er-
quickung. Sie schlaͤft nicht. Der Morgen kommt, da
tritt das saͤmmtliche Hausgesinde zu ihr herein und be-
kennt ihr weinend, der Schwager sey vor vierzehn Tagen
begraben worden, und habe durch ein Testament sein gan-
zes ansehnliches Vermoͤgen zu milden Stiftungen ver-
macht. — Hier fieng die Frau bitterlich an zu weinen:
ich kann noch immer nicht sterben! sagte sie. — Mir ist
entfallen, wie sie in die Gegend kam, in der sie nun
seit fast fuͤnfzig Jahren hungert und nicht
sterben kann.
Von Heidelberg aus wurde sie lange

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[18/0022] Da kam der siebenjaͤhrige Krieg, mit ihm Noth und Elend. Sie verlor alles Jhrige, sie darbte und behielt frohen Muth. Sie sah ihre Kinder sterben und hielt sich noch aufrecht. Endlich starb auch der Mann: das warf sie nieder. Eine lange Krankheit fraß den Rest ihres Ver- moͤgens. Nackt und blos mußte sie ihren Wohnort ver- lassen. Man rieth ihr, zu ihrem Schwager zu gehen, der Appellationsrath in Darmstadt war. Sie kannte ihn nicht, ein wunderlicher Heiliger sollte er seyn; sie wagte es, weil die Noth sie drang. Von armen Freunden kaͤrg- lich unterstuͤtzt, (denn, sagte sie, niemand hatte mehr, etwas zu geben) brachte sie die Reisekosten auf und kam mit dem Postwagen nach Darmstadt. Bebend tritt sie vor die Thuͤr ihres Schwagers. Eine Magd empfaͤngt sie ver- legen, weis't ihr jedoch ein gutes Zimmer an, und bringt ihr Erfrischungen. Sie bleibt mehrere Stunden allein; kein Schwager laͤßt sich sehen. Gegen die Nacht traͤgt die Magd ein gutes Abendessen auf; sie aber kann vor Bangigkeit und Wehmuth nicht essen, sondern fragt nur immer nach ihrem Schwager. Morgen, morgen, sagt die Magd, die ihre Aengstlichkeit gewahr wird und theilt: schlafen Sie nur erst ruhig aus. Sie beduͤrfen der Er- quickung. Sie schlaͤft nicht. Der Morgen kommt, da tritt das saͤmmtliche Hausgesinde zu ihr herein und be- kennt ihr weinend, der Schwager sey vor vierzehn Tagen begraben worden, und habe durch ein Testament sein gan- zes ansehnliches Vermoͤgen zu milden Stiftungen ver- macht. — Hier fieng die Frau bitterlich an zu weinen: ich kann noch immer nicht sterben! sagte sie. — Mir ist entfallen, wie sie in die Gegend kam, in der sie nun seit fast fuͤnfzig Jahren hungert und nicht sterben kann. Von Heidelberg aus wurde sie lange

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Zitationshilfe: Kotzebue, August von: Erinnerungen aus Paris im Jahre 1804. Bd. 1. Berlin, 1804, S. 18. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kotzebue_erinnerungen01_1804/22>, abgerufen am 28.03.2024.