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Kurz, Hermann: Der Sonnenwirth. Frankfurt (Main), 1855.

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9.

Der erste Gegenstand, mit welchem er sich bei seinem Erwachen
am Neujahrsmorgen beschäftigte, war der Brief, der ihn gestern Nacht
so glücklich gemacht hatte. Er zog ihn unter dem Kopfkissen hervor und
las ihn aber- und abermals. Dabei konnte er freilich eine Wahrnehmung,
die ihm im ersten Jubel so gut wie entgangen war, nicht ganz unterdrücken.
Der Brief war ziemlich abscheulich geschrieben, sowohl was die Handschrift
als was die Rechtschreibung betraf; jene stellte in Unbehilflichkeit und
Verworrenheit das gerade Gegentheil von der zierlichen Gestalt der
Schreiberin dar, und die Gesetze der Rechtschreibung hatte sie erbar¬
mungslos mißhandelt, mit ganzen Buchstaben gegeizt und andere am
unrechten Orte verschwendet, so daß man, um den Sinn des Schrei¬
bens zu verstehen, mehr dem Laut als den Schriftzeichen nach lesen
mußte. Friedrich hatte, wie bereits bemerkt, Alles gelernt, was ihm
die Schule bieten konnte; sein Vater hatte ihn nach der Confirmation
noch ein Jahr lang im Hause des Schulmeisters untergebracht, um
den durch den Tod seiner Mutter meisterlos gewordenen und im Wirths¬
haustreiben der Verwilderung anheimfallenden Knaben unter eine
gleichmäßige Zucht zu bringen; und er schrieb seinen Brief oder Auf¬
satz, der Bildung der Zeit gemäß, so gut als irgend ein Anderer.
Ohne Zweifel erblickten der Pfarrer und Amtmann zwischen ihrer und
seiner Bildung eine breite Kluft: wenn man aber auf der heutigen
Bildungsstufe das, was von seiner Hand aufbewahrt worden ist, mit
den Bildungsurkunden von der Hand seiner Vorgesetzten vergleicht, so
merkt man kaum einen Unterschied; denn man findet bei ihm nicht
häufig Fehler, und auch sie schreiben keineswegs ganz fehlerfrei. Da¬
gegen war seine Art zu schrieben und Christinens Brief wie Tag
und Nacht oder wie eine Hühnerpfote von einer menschlichen Hand¬
schrift absticht; und so gewiß ein warmer Körper, wenn man ihn mit
kaltem Wasser übergießt, von einer unangenehmen Empfindung be¬
fallen wird, so gewiß ist es, daß ein Liebender, der einigermaßen schul¬

9.

Der erſte Gegenſtand, mit welchem er ſich bei ſeinem Erwachen
am Neujahrsmorgen beſchäftigte, war der Brief, der ihn geſtern Nacht
ſo glücklich gemacht hatte. Er zog ihn unter dem Kopfkiſſen hervor und
las ihn aber- und abermals. Dabei konnte er freilich eine Wahrnehmung,
die ihm im erſten Jubel ſo gut wie entgangen war, nicht ganz unterdrücken.
Der Brief war ziemlich abſcheulich geſchrieben, ſowohl was die Handſchrift
als was die Rechtſchreibung betraf; jene ſtellte in Unbehilflichkeit und
Verworrenheit das gerade Gegentheil von der zierlichen Geſtalt der
Schreiberin dar, und die Geſetze der Rechtſchreibung hatte ſie erbar¬
mungslos mißhandelt, mit ganzen Buchſtaben gegeizt und andere am
unrechten Orte verſchwendet, ſo daß man, um den Sinn des Schrei¬
bens zu verſtehen, mehr dem Laut als den Schriftzeichen nach leſen
mußte. Friedrich hatte, wie bereits bemerkt, Alles gelernt, was ihm
die Schule bieten konnte; ſein Vater hatte ihn nach der Confirmation
noch ein Jahr lang im Hauſe des Schulmeiſters untergebracht, um
den durch den Tod ſeiner Mutter meiſterlos gewordenen und im Wirths¬
haustreiben der Verwilderung anheimfallenden Knaben unter eine
gleichmäßige Zucht zu bringen; und er ſchrieb ſeinen Brief oder Auf¬
ſatz, der Bildung der Zeit gemäß, ſo gut als irgend ein Anderer.
Ohne Zweifel erblickten der Pfarrer und Amtmann zwiſchen ihrer und
ſeiner Bildung eine breite Kluft: wenn man aber auf der heutigen
Bildungsſtufe das, was von ſeiner Hand aufbewahrt worden iſt, mit
den Bildungsurkunden von der Hand ſeiner Vorgeſetzten vergleicht, ſo
merkt man kaum einen Unterſchied; denn man findet bei ihm nicht
häufig Fehler, und auch ſie ſchreiben keineswegs ganz fehlerfrei. Da¬
gegen war ſeine Art zu ſchrieben und Chriſtinens Brief wie Tag
und Nacht oder wie eine Hühnerpfote von einer menſchlichen Hand¬
ſchrift abſticht; und ſo gewiß ein warmer Körper, wenn man ihn mit
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fallen wird, ſo gewiß iſt es, daß ein Liebender, der einigermaßen ſchul¬

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[116/0132] 9. Der erſte Gegenſtand, mit welchem er ſich bei ſeinem Erwachen am Neujahrsmorgen beſchäftigte, war der Brief, der ihn geſtern Nacht ſo glücklich gemacht hatte. Er zog ihn unter dem Kopfkiſſen hervor und las ihn aber- und abermals. Dabei konnte er freilich eine Wahrnehmung, die ihm im erſten Jubel ſo gut wie entgangen war, nicht ganz unterdrücken. Der Brief war ziemlich abſcheulich geſchrieben, ſowohl was die Handſchrift als was die Rechtſchreibung betraf; jene ſtellte in Unbehilflichkeit und Verworrenheit das gerade Gegentheil von der zierlichen Geſtalt der Schreiberin dar, und die Geſetze der Rechtſchreibung hatte ſie erbar¬ mungslos mißhandelt, mit ganzen Buchſtaben gegeizt und andere am unrechten Orte verſchwendet, ſo daß man, um den Sinn des Schrei¬ bens zu verſtehen, mehr dem Laut als den Schriftzeichen nach leſen mußte. Friedrich hatte, wie bereits bemerkt, Alles gelernt, was ihm die Schule bieten konnte; ſein Vater hatte ihn nach der Confirmation noch ein Jahr lang im Hauſe des Schulmeiſters untergebracht, um den durch den Tod ſeiner Mutter meiſterlos gewordenen und im Wirths¬ haustreiben der Verwilderung anheimfallenden Knaben unter eine gleichmäßige Zucht zu bringen; und er ſchrieb ſeinen Brief oder Auf¬ ſatz, der Bildung der Zeit gemäß, ſo gut als irgend ein Anderer. Ohne Zweifel erblickten der Pfarrer und Amtmann zwiſchen ihrer und ſeiner Bildung eine breite Kluft: wenn man aber auf der heutigen Bildungsſtufe das, was von ſeiner Hand aufbewahrt worden iſt, mit den Bildungsurkunden von der Hand ſeiner Vorgeſetzten vergleicht, ſo merkt man kaum einen Unterſchied; denn man findet bei ihm nicht häufig Fehler, und auch ſie ſchreiben keineswegs ganz fehlerfrei. Da¬ gegen war ſeine Art zu ſchrieben und Chriſtinens Brief wie Tag und Nacht oder wie eine Hühnerpfote von einer menſchlichen Hand¬ ſchrift abſticht; und ſo gewiß ein warmer Körper, wenn man ihn mit kaltem Waſſer übergießt, von einer unangenehmen Empfindung be¬ fallen wird, ſo gewiß iſt es, daß ein Liebender, der einigermaßen ſchul¬

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Zitationshilfe: Kurz, Hermann: Der Sonnenwirth. Frankfurt (Main), 1855, S. 116. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kurz_sonnenwirth_1855/132>, abgerufen am 28.03.2024.