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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.

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der moralischen und körperlichen Schönheit.
Geizes ist nicht Natur, so wenig der Geiz eine natürliche Anlage ist. Der Geiz und sein Ausdruck
sind -- Folgen der Angewöhnung. "Aber diese Stirn? dieser Umriß des Oberhauptes?" -- auch
dieß kommt so nicht unmittelbar aus der Hand der Natur -- und Stirnen, die zu dieser Form die
Grundlage mit auf die Welt zu bringen scheinen, haben sich, durch das ganze Maaß äußerlicher Ein-
drücke, zu den Edelsten, oder doch zu den Heldenhaftesten geformt. Doch -- wenn's auch möglich
wäre, daß Judas so ausgesehen hätte, als Holbein ihn zeichnet; ja wenn's möglich wäre, daß er
schon bey seiner Geburt, den Hauptzügen nach so ausgesehen hätte; -- auch alsdann wär's dem, der
die große Hoffnung giebt: Siehe ich mache alles neu; auch dann noch möglich, aus diesem Ge-
fäße seines Zorns ein Gefäß der Ehre zuzubereiten. Denn, o Tiefe des Reichthums der Weis-
heit! wie unergründlich sind seine Wege! wie unerforschlich seine Gerichte! -- denn, --
er hat alle unter den Ungehorsam beschlossen -- daß er sich aller erbarmte.

Dritte Zugabe.
Christus nach Holbein.

Den Christus-Jdealen will ich ein eigen Fragment wiedmen. Die Sache verdient in mehr als
einer Absicht umständliche Beleuchtung.

Jetzt nur ein Wörtchen über diesen Holbeinischen Christus, das zu unserm Zweck dienen kann.

Der Unterschied ist auffallend. Man frage wieder, wen man will, ohne daß man diesen
beyden Köpfen Namen gebe: "Welcher ist schön? welcher tugendhaft? welcher häßlich? welcher
"lasterhaft? welcher gefällt dir besser? mit welchem willst du lieber umgehen?"

Keine Frage in der Welt wird schneller beantwortet werden können, wie diese.

Vergleichet Stirn und Stirn, Mund und Mund, Gesicht und Gesicht -- Wer wird anstehn?

Nimmermehr würde diese Stirn so offen, so runzellos, so heiter und edel seyn, wenn die
Unruhe des gierigen Geizes, sie oft in drohende, verdrüßliche Falten gelegt hätte.

Ein offenes, absichtloses, sich jedem Herzen gern mittheilendes Herz, das nicht leichtsinnig,
sondern groß ist -- (zwey Dinge, die so oft mit einander verwechselt werden) wird seinen Augen-
braunen selten Wendungen geben, die -- die Anlagen zu widrigen Runzeln der Stirne würden.

Wenn
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der moraliſchen und koͤrperlichen Schoͤnheit.
Geizes iſt nicht Natur, ſo wenig der Geiz eine natuͤrliche Anlage iſt. Der Geiz und ſein Ausdruck
ſind — Folgen der Angewoͤhnung. „Aber dieſe Stirn? dieſer Umriß des Oberhauptes?“ — auch
dieß kommt ſo nicht unmittelbar aus der Hand der Natur — und Stirnen, die zu dieſer Form die
Grundlage mit auf die Welt zu bringen ſcheinen, haben ſich, durch das ganze Maaß aͤußerlicher Ein-
druͤcke, zu den Edelſten, oder doch zu den Heldenhafteſten geformt. Doch — wenn's auch moͤglich
waͤre, daß Judas ſo ausgeſehen haͤtte, als Holbein ihn zeichnet; ja wenn's moͤglich waͤre, daß er
ſchon bey ſeiner Geburt, den Hauptzuͤgen nach ſo ausgeſehen haͤtte; — auch alsdann waͤr's dem, der
die große Hoffnung giebt: Siehe ich mache alles neu; auch dann noch moͤglich, aus dieſem Ge-
faͤße ſeines Zorns ein Gefaͤß der Ehre zuzubereiten. Denn, o Tiefe des Reichthums der Weis-
heit! wie unergruͤndlich ſind ſeine Wege! wie unerforſchlich ſeine Gerichte! — denn, —
er hat alle unter den Ungehorſam beſchloſſen — daß er ſich aller erbarmte.

Dritte Zugabe.
Chriſtus nach Holbein.

Den Chriſtus-Jdealen will ich ein eigen Fragment wiedmen. Die Sache verdient in mehr als
einer Abſicht umſtaͤndliche Beleuchtung.

Jetzt nur ein Woͤrtchen uͤber dieſen Holbeiniſchen Chriſtus, das zu unſerm Zweck dienen kann.

Der Unterſchied iſt auffallend. Man frage wieder, wen man will, ohne daß man dieſen
beyden Koͤpfen Namen gebe: „Welcher iſt ſchoͤn? welcher tugendhaft? welcher haͤßlich? welcher
„laſterhaft? welcher gefaͤllt dir beſſer? mit welchem willſt du lieber umgehen?“

Keine Frage in der Welt wird ſchneller beantwortet werden koͤnnen, wie dieſe.

Vergleichet Stirn und Stirn, Mund und Mund, Geſicht und Geſicht — Wer wird anſtehn?

Nimmermehr wuͤrde dieſe Stirn ſo offen, ſo runzellos, ſo heiter und edel ſeyn, wenn die
Unruhe des gierigen Geizes, ſie oft in drohende, verdruͤßliche Falten gelegt haͤtte.

Ein offenes, abſichtloſes, ſich jedem Herzen gern mittheilendes Herz, das nicht leichtſinnig,
ſondern groß iſt — (zwey Dinge, die ſo oft mit einander verwechſelt werden) wird ſeinen Augen-
braunen ſelten Wendungen geben, die — die Anlagen zu widrigen Runzeln der Stirne wuͤrden.

Wenn
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[83/0115] der moraliſchen und koͤrperlichen Schoͤnheit. Geizes iſt nicht Natur, ſo wenig der Geiz eine natuͤrliche Anlage iſt. Der Geiz und ſein Ausdruck ſind — Folgen der Angewoͤhnung. „Aber dieſe Stirn? dieſer Umriß des Oberhauptes?“ — auch dieß kommt ſo nicht unmittelbar aus der Hand der Natur — und Stirnen, die zu dieſer Form die Grundlage mit auf die Welt zu bringen ſcheinen, haben ſich, durch das ganze Maaß aͤußerlicher Ein- druͤcke, zu den Edelſten, oder doch zu den Heldenhafteſten geformt. Doch — wenn's auch moͤglich waͤre, daß Judas ſo ausgeſehen haͤtte, als Holbein ihn zeichnet; ja wenn's moͤglich waͤre, daß er ſchon bey ſeiner Geburt, den Hauptzuͤgen nach ſo ausgeſehen haͤtte; — auch alsdann waͤr's dem, der die große Hoffnung giebt: Siehe ich mache alles neu; auch dann noch moͤglich, aus dieſem Ge- faͤße ſeines Zorns ein Gefaͤß der Ehre zuzubereiten. Denn, o Tiefe des Reichthums der Weis- heit! wie unergruͤndlich ſind ſeine Wege! wie unerforſchlich ſeine Gerichte! — denn, — er hat alle unter den Ungehorſam beſchloſſen — daß er ſich aller erbarmte. den 7. und 8. Febr. 1774. Dritte Zugabe. Chriſtus nach Holbein. Den Chriſtus-Jdealen will ich ein eigen Fragment wiedmen. Die Sache verdient in mehr als einer Abſicht umſtaͤndliche Beleuchtung. Jetzt nur ein Woͤrtchen uͤber dieſen Holbeiniſchen Chriſtus, das zu unſerm Zweck dienen kann. Der Unterſchied iſt auffallend. Man frage wieder, wen man will, ohne daß man dieſen beyden Koͤpfen Namen gebe: „Welcher iſt ſchoͤn? welcher tugendhaft? welcher haͤßlich? welcher „laſterhaft? welcher gefaͤllt dir beſſer? mit welchem willſt du lieber umgehen?“ Keine Frage in der Welt wird ſchneller beantwortet werden koͤnnen, wie dieſe. Vergleichet Stirn und Stirn, Mund und Mund, Geſicht und Geſicht — Wer wird anſtehn? Nimmermehr wuͤrde dieſe Stirn ſo offen, ſo runzellos, ſo heiter und edel ſeyn, wenn die Unruhe des gierigen Geizes, ſie oft in drohende, verdruͤßliche Falten gelegt haͤtte. Ein offenes, abſichtloſes, ſich jedem Herzen gern mittheilendes Herz, das nicht leichtſinnig, ſondern groß iſt — (zwey Dinge, die ſo oft mit einander verwechſelt werden) wird ſeinen Augen- braunen ſelten Wendungen geben, die — die Anlagen zu widrigen Runzeln der Stirne wuͤrden. Wenn M 2

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 83. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/115>, abgerufen am 28.03.2024.