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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.

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XVII. Fragment. Physiognomische Uebungen
U.
Neun erdichtete Silhouetten.

Es ist keine von allen diesen Silhouetten nach der Wahrheit und Symmetrie der Natur gezeichnet.

Es sind dem Zeichner nur gewisse Gesichtspunkte und allgemeine Jdeen vorgehalten wor-
den, die ihn leiten sollten. Es sollten Uebungen des physiognomischen Gefühles seyn, dunkle
Wahrnehmungen in bestimmtere Bilder verfaßt -- Zeichen, wodurch dem Leser manche sonst un-
ausdrückbare Jdee anschaulich gemacht; Gelegenheiten, wobey ihm auf einmal vieles gesagt,
worauf er in der Folge mehrmals verwiesen werden kann.

Setze dich also neben mich, freundschaftlicher Leser, und laß dir etwas von dem Resultat
bisheriger Beobachtungen mittheilen, und antworte mir im Geiste mit den deinigen.

1.
Solche scharfe eckigte Gesichter hab ich immer vorzüglich verstandreich und tiefschauend
gefunden. Das Kinn scheint mir zu diesem eckigten Umrisse zu glatt.
2.
Die Stirne gut; je tiefer herab, desto schwächer.
3.
Ein sehr mittelmäßiges Gesichte, die untere Hälfte der Nase ausgenommen.
4.
Die Nase sicherlich edel und verständig, das Uebrige gemein, zaghaft, leer; solche Stirne
hab ich noch nie bey solcher Nase gesehen, auch nicht ein so blödes Untergesicht.
5.
Die Stirne ziemlich gemein. Unter der Stirne viel Nachdenken, Ueberlegung, Klugheit
und Ruhe. Aber keine Erhabenheit der Seele, und keine siegende Schnellkraft.
6.
Bis zur Oberlippe forschender, systematischer Verstand. Untenher weibliche Bonvivanterey.
7.
Ein ziemlich leeres, zaghaftes, kraftloses, trocknes Gesicht, das in der Welt gewiß nie
was Großes wirken wird.
8.
Bis unter die Nase ausnehmend viel fester männlicher Verstand -- Bemerke das Schiefe,
und das Eckigte. -- Auch bis zum Unterkinn ist Verstand. Das Unterkinn harmonirt nicht mit
dem ganzen Obertheile des Gesichtes.
9. Ein
XVII. Fragment. Phyſiognomiſche Uebungen
U.
Neun erdichtete Silhouetten.

Es iſt keine von allen dieſen Silhouetten nach der Wahrheit und Symmetrie der Natur gezeichnet.

Es ſind dem Zeichner nur gewiſſe Geſichtspunkte und allgemeine Jdeen vorgehalten wor-
den, die ihn leiten ſollten. Es ſollten Uebungen des phyſiognomiſchen Gefuͤhles ſeyn, dunkle
Wahrnehmungen in beſtimmtere Bilder verfaßt — Zeichen, wodurch dem Leſer manche ſonſt un-
ausdruͤckbare Jdee anſchaulich gemacht; Gelegenheiten, wobey ihm auf einmal vieles geſagt,
worauf er in der Folge mehrmals verwieſen werden kann.

Setze dich alſo neben mich, freundſchaftlicher Leſer, und laß dir etwas von dem Reſultat
bisheriger Beobachtungen mittheilen, und antworte mir im Geiſte mit den deinigen.

1.
Solche ſcharfe eckigte Geſichter hab ich immer vorzuͤglich verſtandreich und tiefſchauend
gefunden. Das Kinn ſcheint mir zu dieſem eckigten Umriſſe zu glatt.
2.
Die Stirne gut; je tiefer herab, deſto ſchwaͤcher.
3.
Ein ſehr mittelmaͤßiges Geſichte, die untere Haͤlfte der Naſe ausgenommen.
4.
Die Naſe ſicherlich edel und verſtaͤndig, das Uebrige gemein, zaghaft, leer; ſolche Stirne
hab ich noch nie bey ſolcher Naſe geſehen, auch nicht ein ſo bloͤdes Untergeſicht.
5.
Die Stirne ziemlich gemein. Unter der Stirne viel Nachdenken, Ueberlegung, Klugheit
und Ruhe. Aber keine Erhabenheit der Seele, und keine ſiegende Schnellkraft.
6.
Bis zur Oberlippe forſchender, ſyſtematiſcher Verſtand. Untenher weibliche Bonvivanterey.
7.
Ein ziemlich leeres, zaghaftes, kraftloſes, trocknes Geſicht, das in der Welt gewiß nie
was Großes wirken wird.
8.
Bis unter die Naſe ausnehmend viel feſter maͤnnlicher Verſtand — Bemerke das Schiefe,
und das Eckigte. — Auch bis zum Unterkinn iſt Verſtand. Das Unterkinn harmonirt nicht mit
dem ganzen Obertheile des Geſichtes.
9. Ein
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[222/0328] XVII. Fragment. Phyſiognomiſche Uebungen U. Neun erdichtete Silhouetten. Es iſt keine von allen dieſen Silhouetten nach der Wahrheit und Symmetrie der Natur gezeichnet. Es ſind dem Zeichner nur gewiſſe Geſichtspunkte und allgemeine Jdeen vorgehalten wor- den, die ihn leiten ſollten. Es ſollten Uebungen des phyſiognomiſchen Gefuͤhles ſeyn, dunkle Wahrnehmungen in beſtimmtere Bilder verfaßt — Zeichen, wodurch dem Leſer manche ſonſt un- ausdruͤckbare Jdee anſchaulich gemacht; Gelegenheiten, wobey ihm auf einmal vieles geſagt, worauf er in der Folge mehrmals verwieſen werden kann. Setze dich alſo neben mich, freundſchaftlicher Leſer, und laß dir etwas von dem Reſultat bisheriger Beobachtungen mittheilen, und antworte mir im Geiſte mit den deinigen. 1. Solche ſcharfe eckigte Geſichter hab ich immer vorzuͤglich verſtandreich und tiefſchauend gefunden. Das Kinn ſcheint mir zu dieſem eckigten Umriſſe zu glatt. 2. Die Stirne gut; je tiefer herab, deſto ſchwaͤcher. 3. Ein ſehr mittelmaͤßiges Geſichte, die untere Haͤlfte der Naſe ausgenommen. 4. Die Naſe ſicherlich edel und verſtaͤndig, das Uebrige gemein, zaghaft, leer; ſolche Stirne hab ich noch nie bey ſolcher Naſe geſehen, auch nicht ein ſo bloͤdes Untergeſicht. 5. Die Stirne ziemlich gemein. Unter der Stirne viel Nachdenken, Ueberlegung, Klugheit und Ruhe. Aber keine Erhabenheit der Seele, und keine ſiegende Schnellkraft. 6. Bis zur Oberlippe forſchender, ſyſtematiſcher Verſtand. Untenher weibliche Bonvivanterey. 7. Ein ziemlich leeres, zaghaftes, kraftloſes, trocknes Geſicht, das in der Welt gewiß nie was Großes wirken wird. 8. Bis unter die Naſe ausnehmend viel feſter maͤnnlicher Verſtand — Bemerke das Schiefe, und das Eckigte. — Auch bis zum Unterkinn iſt Verſtand. Das Unterkinn harmonirt nicht mit dem ganzen Obertheile des Geſichtes. 9. Ein

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 222. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/328>, abgerufen am 29.03.2024.