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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.

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für die Physiognomik.
"mit Fleiß von Natur; denn hier ist nicht die Rede von dem, was durch die Auferziehung, den
"Umgang mit andern, guten Unterricht u. s. w. kommt. Solchergestalt hat die Kunst, der Men-
"schen Gemüther aus der Gestalt der Gliedmaßen und des ganzen Leibes zu erkennen, welche man
"die Physiognomie zu nennen pflegt, wohl einen richtigen Grund: Ob man aber bisher es ge-
"troffen, wenn man besondre Auslegungen von dieser Verwandschaft des Leibs mit dem Gemüthe
"machen wollen, laß ich vor dießmal an seinen Ort gestellt seyn. Wenn ich hier von der Ge-
"stalt
des Leibes und seiner Gliedmaßen rede; so versteh' ich dadurch alles, was sich davon deut-
"lich erkennen läßt, als da sind die Figur, die Verhältniß ihrer Theile gegen andre, und ihre ei-
"gentliche Lage.

"Unterdessen, da der Mensch durch die Auferziehung, Gesellschaften, guten Unterricht
"und geschickte Uebungen seine natürlichen Neigungen ändern kann, welches ich als eine aus der
"täglichen Erfahrung bekannte Sache annehme, so kann man aus der Beschaffenheit der Glied-
"maßen des Leibes nur erkennen, wozu der Mensch von Natur geneigt ist, nicht aber, was er er-
"greifen wird, indem er durch die Vernunft, oder eingewurzelte Gewohnheit seinen natürlichen
"Neigungen widersteht. Es ist wohl wahr, daß sich in der Seele keine Aenderungen ereignen
"können, es muß auch eine mit ihnen übereinstimmende im Leibe geschehen. Allein gleichwie man
"befindet, daß die natürlichen Neigungen sich noch beständig wider die Vernunft und Gewohnhei-
"ten, ja auch, wenn sie gut sind, wider die bösen Gewohnheiten regen; so ist auch daher zu schlies-
"sen, daß die im Leibe vorgegangene Veränderung, die mit ihnen übereinstimmende Gestalt der
"Gliedmaßen nicht völlig aufheben kann. Die Sache ist delicat, und ich fürchte gar sehr, die
"Physiognomie erfordere mehr Einsicht, als zu der Zeit in der Welt gewesen, da man sie in Re-
"geln zu bringen, sich unterfangen -- --

"Da die Lineamente des Angesichts hauptsächlich zu den Mienen dienen; die Mienen
"aber eine Anzeige der natürlichen Neigungen geben, wenn sie ungezwungen sind, so dienen
"auch die Lineamente zur Erkenntniß der natürlichen Neigungen, wenn man sie in ihrer rech-
"ten Lage betrachtet." Vernünftige Gedanken von der Menschen Thun und Lassen --
§. 213. 14. 16. 19.

12. Gellert.
E 3

fuͤr die Phyſiognomik.
„mit Fleiß von Natur; denn hier iſt nicht die Rede von dem, was durch die Auferziehung, den
„Umgang mit andern, guten Unterricht u. ſ. w. kommt. Solchergeſtalt hat die Kunſt, der Men-
„ſchen Gemuͤther aus der Geſtalt der Gliedmaßen und des ganzen Leibes zu erkennen, welche man
„die Phyſiognomie zu nennen pflegt, wohl einen richtigen Grund: Ob man aber bisher es ge-
„troffen, wenn man beſondre Auslegungen von dieſer Verwandſchaft des Leibs mit dem Gemuͤthe
„machen wollen, laß ich vor dießmal an ſeinen Ort geſtellt ſeyn. Wenn ich hier von der Ge-
„ſtalt
des Leibes und ſeiner Gliedmaßen rede; ſo verſteh' ich dadurch alles, was ſich davon deut-
„lich erkennen laͤßt, als da ſind die Figur, die Verhaͤltniß ihrer Theile gegen andre, und ihre ei-
„gentliche Lage.

„Unterdeſſen, da der Menſch durch die Auferziehung, Geſellſchaften, guten Unterricht
„und geſchickte Uebungen ſeine natuͤrlichen Neigungen aͤndern kann, welches ich als eine aus der
„taͤglichen Erfahrung bekannte Sache annehme, ſo kann man aus der Beſchaffenheit der Glied-
„maßen des Leibes nur erkennen, wozu der Menſch von Natur geneigt iſt, nicht aber, was er er-
„greifen wird, indem er durch die Vernunft, oder eingewurzelte Gewohnheit ſeinen natuͤrlichen
„Neigungen widerſteht. Es iſt wohl wahr, daß ſich in der Seele keine Aenderungen ereignen
„koͤnnen, es muß auch eine mit ihnen uͤbereinſtimmende im Leibe geſchehen. Allein gleichwie man
„befindet, daß die natuͤrlichen Neigungen ſich noch beſtaͤndig wider die Vernunft und Gewohnhei-
„ten, ja auch, wenn ſie gut ſind, wider die boͤſen Gewohnheiten regen; ſo iſt auch daher zu ſchlieſ-
„ſen, daß die im Leibe vorgegangene Veraͤnderung, die mit ihnen uͤbereinſtimmende Geſtalt der
„Gliedmaßen nicht voͤllig aufheben kann. Die Sache iſt delicat, und ich fuͤrchte gar ſehr, die
„Phyſiognomie erfordere mehr Einſicht, als zu der Zeit in der Welt geweſen, da man ſie in Re-
„geln zu bringen, ſich unterfangen — —

„Da die Lineamente des Angeſichts hauptſaͤchlich zu den Mienen dienen; die Mienen
„aber eine Anzeige der natuͤrlichen Neigungen geben, wenn ſie ungezwungen ſind, ſo dienen
„auch die Lineamente zur Erkenntniß der natuͤrlichen Neigungen, wenn man ſie in ihrer rech-
„ten Lage betrachtet.“ Vernuͤnftige Gedanken von der Menſchen Thun und Laſſen
§. 213. 14. 16. 19.

12. Gellert.
E 3
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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 29. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/53>, abgerufen am 29.03.2024.