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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.

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VIII. Fragment.
Achtes Fragment.
Die Physiognomik, eine Wissenschaft
.

"Aber nie, und wenn wirklich auch etwas Wahres dran seyn sollte, nie wird die Phy-
"siognomik eine Wissenschaft werden." *) -- Das ist's, was tausend Leser und Nichtleser
dieser Schrift sagen, -- und vermuthlich, so leicht und klar sich auch diese Einwendung beant-
worten, und so wenig sich auch wider die Antwort sagen läßt, als wenn nichts drauf gesagt
worden wäre, fortbehaupten werden.

Und was läßt sich darauf antworten?

"Die Physiognomik kann eine Wissenschaft werden, so gut als alle unmathematische
"Wissenschaften!"

So gut als die Physik; -- denn sie ist Physik! So gut, als die Arzneykunst,
denn sie ist ein Theil der Arzneykunst! So gut als die Theologie, denn sie ist Theologie! **)
So gut als die schönen Wissenschaften, denn sie gehört zu den schönen Wissenschaften.

So wie diese alle kann sie bis auf einen gewissen Grad unter bestimmte Regeln ge-
bracht werden; hat sie ihre bestimmbaren Charactere -- die sich lehren und lernen, mittheilen,
empfangen und fortpflanzen lassen. So wie diese alle muß sie sehr vieles dem Genie, dem
Gefühl überlassen; hat sie für vieles noch keine bestimmte, oder bestimmbare Zeichen und
Regeln.

Wer die leichte, jedem Kinde mögliche, Mühe nehmen mag, das nicht aus den Augen
zu setzen, was alle, wenigstens unmathematische, und nicht rein mathematische Wissenschafteu
gemein haben -- der sollte sein Lebtag nichts mehr gegen die Wissenschaftlichkeit der Physiogno-

mik
*) Wenigstens von den Philosophen der Baum-
gartenschen Schule werd' ich diesen Einwurf nicht zu
besorgen haben. Man kennt seine idealische Defini-
tion von Scientia, und dennoch macht er sich kein[Spaltenumbruch]
Bedenken, die Semiotik unter die Wissenschaf-
ten zu setzen. Est Scientia Signorum. Metaph.
§. 349.
**) So gut wenigstens als die Lithotheologie!
VIII. Fragment.
Achtes Fragment.
Die Phyſiognomik, eine Wiſſenſchaft
.

Aber nie, und wenn wirklich auch etwas Wahres dran ſeyn ſollte, nie wird die Phy-
„ſiognomik eine Wiſſenſchaft werden.“ *) — Das iſt's, was tauſend Leſer und Nichtleſer
dieſer Schrift ſagen, — und vermuthlich, ſo leicht und klar ſich auch dieſe Einwendung beant-
worten, und ſo wenig ſich auch wider die Antwort ſagen laͤßt, als wenn nichts drauf geſagt
worden waͤre, fortbehaupten werden.

Und was laͤßt ſich darauf antworten?

„Die Phyſiognomik kann eine Wiſſenſchaft werden, ſo gut als alle unmathematiſche
„Wiſſenſchaften!“

So gut als die Phyſik; — denn ſie iſt Phyſik! So gut, als die Arzneykunſt,
denn ſie iſt ein Theil der Arzneykunſt! So gut als die Theologie, denn ſie iſt Theologie! **)
So gut als die ſchoͤnen Wiſſenſchaften, denn ſie gehoͤrt zu den ſchoͤnen Wiſſenſchaften.

So wie dieſe alle kann ſie bis auf einen gewiſſen Grad unter beſtimmte Regeln ge-
bracht werden; hat ſie ihre beſtimmbaren Charactere — die ſich lehren und lernen, mittheilen,
empfangen und fortpflanzen laſſen. So wie dieſe alle muß ſie ſehr vieles dem Genie, dem
Gefuͤhl uͤberlaſſen; hat ſie fuͤr vieles noch keine beſtimmte, oder beſtimmbare Zeichen und
Regeln.

Wer die leichte, jedem Kinde moͤgliche, Muͤhe nehmen mag, das nicht aus den Augen
zu ſetzen, was alle, wenigſtens unmathematiſche, und nicht rein mathematiſche Wiſſenſchafteu
gemein haben — der ſollte ſein Lebtag nichts mehr gegen die Wiſſenſchaftlichkeit der Phyſiogno-

mik
*) Wenigſtens von den Philoſophen der Baum-
gartenſchen Schule werd' ich dieſen Einwurf nicht zu
beſorgen haben. Man kennt ſeine idealiſche Defini-
tion von Scientia, und dennoch macht er ſich kein[Spaltenumbruch]
Bedenken, die Semiotik unter die Wiſſenſchaf-
ten zu ſetzen. Eſt Scientia Signorum. Metaph.
§. 349.
**) So gut wenigſtens als die Lithotheologie!
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[52/0076] VIII. Fragment. Achtes Fragment. Die Phyſiognomik, eine Wiſſenſchaft. „Aber nie, und wenn wirklich auch etwas Wahres dran ſeyn ſollte, nie wird die Phy- „ſiognomik eine Wiſſenſchaft werden.“ *) — Das iſt's, was tauſend Leſer und Nichtleſer dieſer Schrift ſagen, — und vermuthlich, ſo leicht und klar ſich auch dieſe Einwendung beant- worten, und ſo wenig ſich auch wider die Antwort ſagen laͤßt, als wenn nichts drauf geſagt worden waͤre, fortbehaupten werden. Und was laͤßt ſich darauf antworten? „Die Phyſiognomik kann eine Wiſſenſchaft werden, ſo gut als alle unmathematiſche „Wiſſenſchaften!“ So gut als die Phyſik; — denn ſie iſt Phyſik! So gut, als die Arzneykunſt, denn ſie iſt ein Theil der Arzneykunſt! So gut als die Theologie, denn ſie iſt Theologie! **) So gut als die ſchoͤnen Wiſſenſchaften, denn ſie gehoͤrt zu den ſchoͤnen Wiſſenſchaften. So wie dieſe alle kann ſie bis auf einen gewiſſen Grad unter beſtimmte Regeln ge- bracht werden; hat ſie ihre beſtimmbaren Charactere — die ſich lehren und lernen, mittheilen, empfangen und fortpflanzen laſſen. So wie dieſe alle muß ſie ſehr vieles dem Genie, dem Gefuͤhl uͤberlaſſen; hat ſie fuͤr vieles noch keine beſtimmte, oder beſtimmbare Zeichen und Regeln. Wer die leichte, jedem Kinde moͤgliche, Muͤhe nehmen mag, das nicht aus den Augen zu ſetzen, was alle, wenigſtens unmathematiſche, und nicht rein mathematiſche Wiſſenſchafteu gemein haben — der ſollte ſein Lebtag nichts mehr gegen die Wiſſenſchaftlichkeit der Phyſiogno- mik *) Wenigſtens von den Philoſophen der Baum- gartenſchen Schule werd' ich dieſen Einwurf nicht zu beſorgen haben. Man kennt ſeine idealiſche Defini- tion von Scientia, und dennoch macht er ſich kein Bedenken, die Semiotik unter die Wiſſenſchaf- ten zu ſetzen. Eſt Scientia Signorum. Metaph. §. 349. **) So gut wenigſtens als die Lithotheologie!

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 52. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/76>, abgerufen am 25.04.2024.