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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776.

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Fünftes Fragment.
Etwas über die Einwendungen gegen die Physiognomik überhaupt.

Jch stund an, ob ich schon in dem zweyten Bande dieser Fragmente von den Einwendungen
gegen die Physiognomik ein Wort sagen sollte? Einsichtsvolle Freunde mißriethen mir's. Al-
lein, alles abgewogen, fand ich's billig, den Wahrheitsuchenden Leser einigermaßen aus der Ver-
legenheit zu setzen, in die er durch die tägliche Anhörung einiger Einwendungen getrieben wird.

Ohne Zahl sind die Einwendungen, die man gegen die Wahrheit und Zuverlässigkeit
der menschlichen Gesichtszüge machen kann. Ein großer Theil derselben scheint mir leicht, ein
großer Theil schwer, und noch zur Zeit unmöglich zu beantworten.

Eh' ich einige besondere anführe -- will ich zuerst einige allgemeine Anmerkungen zum
Grunde legen, deren genaue Prüfung und Erwägung -- unzählige Schwierigkeiten aus dem
Wege räumen würde.

Gegen die allergewissesten Sachen lassen sich unbeantwortliche Einwendungen machen.
Unbeantwortliche Einwendungen an sich heben also die Gewißheit und Zuverlässigkeit einer Sache
nicht auf, wofern diese sonst klar am Tage liegt.

Es ist keine einzige unmathematische Wissenschaft, die nicht ihre bloße schutzlose Seite
habe ... warum nicht die erst noch aus der Wiege sich empor hebende Physiognomik?

Was kann gewisser seyn, als daß die Lichtstralen sich tausend und millionenfach durch-
schneiden, um aus unzähligen Beyspielen Eines anzuführen -- und wer kann die Einwendungen
beantworten, die gegen die Möglichkeit der Sache gemacht werden könnten? --

Mich dünkt, bey allen Untersuchungen kömmt's erst darauf an: "was für eine Sache, die
"behauptet wird, gesagt werden kann?" -- Ein unumstößlicher Beweis für das Daseyn
und die Gewißheit einer Sache wiegt zehentausend Einwendungen auf. Ein positifer
Zeuge,
der von Seite seiner Einsicht und Redlichkeit alle mögliche Zuverlässigkeit hat, Ein solcher
gilt mehr, als unzählige bloß negative. Alle Einwendungen gegen eine gewisse Wahrheit
sind eigentlich bloß negative Zeugen: "das haben wir noch nicht wahrgenommen, das noch nicht

erfahren.
Phys. Fragm. II Versuch. F
Fuͤnftes Fragment.
Etwas uͤber die Einwendungen gegen die Phyſiognomik uͤberhaupt.

Jch ſtund an, ob ich ſchon in dem zweyten Bande dieſer Fragmente von den Einwendungen
gegen die Phyſiognomik ein Wort ſagen ſollte? Einſichtsvolle Freunde mißriethen mir’s. Al-
lein, alles abgewogen, fand ich’s billig, den Wahrheitſuchenden Leſer einigermaßen aus der Ver-
legenheit zu ſetzen, in die er durch die taͤgliche Anhoͤrung einiger Einwendungen getrieben wird.

Ohne Zahl ſind die Einwendungen, die man gegen die Wahrheit und Zuverlaͤſſigkeit
der menſchlichen Geſichtszuͤge machen kann. Ein großer Theil derſelben ſcheint mir leicht, ein
großer Theil ſchwer, und noch zur Zeit unmoͤglich zu beantworten.

Eh’ ich einige beſondere anfuͤhre — will ich zuerſt einige allgemeine Anmerkungen zum
Grunde legen, deren genaue Pruͤfung und Erwaͤgung — unzaͤhlige Schwierigkeiten aus dem
Wege raͤumen wuͤrde.

Gegen die allergewiſſeſten Sachen laſſen ſich unbeantwortliche Einwendungen machen.
Unbeantwortliche Einwendungen an ſich heben alſo die Gewißheit und Zuverlaͤſſigkeit einer Sache
nicht auf, wofern dieſe ſonſt klar am Tage liegt.

Es iſt keine einzige unmathematiſche Wiſſenſchaft, die nicht ihre bloße ſchutzloſe Seite
habe ... warum nicht die erſt noch aus der Wiege ſich empor hebende Phyſiognomik?

Was kann gewiſſer ſeyn, als daß die Lichtſtralen ſich tauſend und millionenfach durch-
ſchneiden, um aus unzaͤhligen Beyſpielen Eines anzufuͤhren — und wer kann die Einwendungen
beantworten, die gegen die Moͤglichkeit der Sache gemacht werden koͤnnten? —

Mich duͤnkt, bey allen Unterſuchungen koͤmmt’s erſt darauf an: „was fuͤr eine Sache, die
„behauptet wird, geſagt werden kann?“ — Ein unumſtoͤßlicher Beweis fuͤr das Daſeyn
und die Gewißheit einer Sache wiegt zehentauſend Einwendungen auf. Ein poſitifer
Zeuge,
der von Seite ſeiner Einſicht und Redlichkeit alle moͤgliche Zuverlaͤſſigkeit hat, Ein ſolcher
gilt mehr, als unzaͤhlige bloß negative. Alle Einwendungen gegen eine gewiſſe Wahrheit
ſind eigentlich bloß negative Zeugen: „das haben wir noch nicht wahrgenommen, das noch nicht

erfahren.
Phyſ. Fragm. II Verſuch. F
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[41/0063] Fuͤnftes Fragment. Etwas uͤber die Einwendungen gegen die Phyſiognomik uͤberhaupt. Jch ſtund an, ob ich ſchon in dem zweyten Bande dieſer Fragmente von den Einwendungen gegen die Phyſiognomik ein Wort ſagen ſollte? Einſichtsvolle Freunde mißriethen mir’s. Al- lein, alles abgewogen, fand ich’s billig, den Wahrheitſuchenden Leſer einigermaßen aus der Ver- legenheit zu ſetzen, in die er durch die taͤgliche Anhoͤrung einiger Einwendungen getrieben wird. Ohne Zahl ſind die Einwendungen, die man gegen die Wahrheit und Zuverlaͤſſigkeit der menſchlichen Geſichtszuͤge machen kann. Ein großer Theil derſelben ſcheint mir leicht, ein großer Theil ſchwer, und noch zur Zeit unmoͤglich zu beantworten. Eh’ ich einige beſondere anfuͤhre — will ich zuerſt einige allgemeine Anmerkungen zum Grunde legen, deren genaue Pruͤfung und Erwaͤgung — unzaͤhlige Schwierigkeiten aus dem Wege raͤumen wuͤrde. Gegen die allergewiſſeſten Sachen laſſen ſich unbeantwortliche Einwendungen machen. Unbeantwortliche Einwendungen an ſich heben alſo die Gewißheit und Zuverlaͤſſigkeit einer Sache nicht auf, wofern dieſe ſonſt klar am Tage liegt. Es iſt keine einzige unmathematiſche Wiſſenſchaft, die nicht ihre bloße ſchutzloſe Seite habe ... warum nicht die erſt noch aus der Wiege ſich empor hebende Phyſiognomik? Was kann gewiſſer ſeyn, als daß die Lichtſtralen ſich tauſend und millionenfach durch- ſchneiden, um aus unzaͤhligen Beyſpielen Eines anzufuͤhren — und wer kann die Einwendungen beantworten, die gegen die Moͤglichkeit der Sache gemacht werden koͤnnten? — Mich duͤnkt, bey allen Unterſuchungen koͤmmt’s erſt darauf an: „was fuͤr eine Sache, die „behauptet wird, geſagt werden kann?“ — Ein unumſtoͤßlicher Beweis fuͤr das Daſeyn und die Gewißheit einer Sache wiegt zehentauſend Einwendungen auf. Ein poſitifer Zeuge, der von Seite ſeiner Einſicht und Redlichkeit alle moͤgliche Zuverlaͤſſigkeit hat, Ein ſolcher gilt mehr, als unzaͤhlige bloß negative. Alle Einwendungen gegen eine gewiſſe Wahrheit ſind eigentlich bloß negative Zeugen: „das haben wir noch nicht wahrgenommen, das noch nicht erfahren. Phyſ. Fragm. II Verſuch. F

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776, S. 41. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776/63>, abgerufen am 29.03.2024.