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Liszt, Franz von: Das deutsche Reichsstrafrecht. Berlin u. a., 1881.

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Die Strafrechtstheorien. §. 6.
Rousseau, Fichte u. A. vertreten, leitet das staatliche
Recht zu strafen ab aus einem Vertragsverhältnisse. Durch
den "Bürgervertrag" in seinen beiden Bestandteilen
wird die Grenze für den Gebrauch der individuellen Freiheit
bestimmt und gegenseitiger Schutz der Rechte zugesichert.
Wer den Bürgervertrag bricht, verliert die durch diesen ihm
zugesicherten Rechte und müßte aus der Rechtsgemeinschaft
ausgeschlossen werden, hätte er nicht in dem zu dem Bürger-
vertrage hinzutretenden "Abbüßungsvertrag" das Recht
erlangt, durch Abbüßung einer Strafe sich des Lebens in der
Gesellschaft wieder fähig zu machen.

2. Nach der Notwehr- oder Verteidigungs-
theorie
, als deren Anhänger Schulze (1813), Martin,
sowie eine Reihe von französischen und italienischen Schrift-
stellern zu nennen sind, leitet der Staat sein Strafrecht ab
aus der durch jedes Verbrechen erzeugten fortwirkenden Ge-
fährdung
seiner Rechtsordnung, und dem durch diesen
Zustand begründeten Notrechte, das Fortbestehen des Staates
gegen jene Gefahr zu sichern.

3. Die Vergütungs- oder Wiederherstellungs-
theorie Welcker's
(1790--1869) sieht den Zweck der
Strafe in der Wiederaufhebung des durch das Ver-
brechen verursachten intellektuellen Schadens (so, wie
der civile Ersatz die Beseitigung des bewirkten materiellen
Schadens bezweckt), und den Rechtsgrund derselben einerseits
in der Verpflichtung jedes Rechtsgenossen die von ihm be-
wirkte Rechtsverletzung wieder gutzumachen, andrerseits in dem
Rechte und der Pflicht der Staatsgewalt, die Bürger eventuell
zwangsweise zur Erfüllung dieser Rechtspflicht anzuhalten.

Eine -- wenig gelungene -- Umarbeitung der Welcker-
schen Ausführungen ist Hepp's "Theorie der bürgerlichen

Die Strafrechtstheorien. §. 6.
Rouſſeau, Fichte u. A. vertreten, leitet das ſtaatliche
Recht zu ſtrafen ab aus einem Vertragsverhältniſſe. Durch
den „Bürgervertrag“ in ſeinen beiden Beſtandteilen
wird die Grenze für den Gebrauch der individuellen Freiheit
beſtimmt und gegenſeitiger Schutz der Rechte zugeſichert.
Wer den Bürgervertrag bricht, verliert die durch dieſen ihm
zugeſicherten Rechte und müßte aus der Rechtsgemeinſchaft
ausgeſchloſſen werden, hätte er nicht in dem zu dem Bürger-
vertrage hinzutretenden „Abbüßungsvertrag“ das Recht
erlangt, durch Abbüßung einer Strafe ſich des Lebens in der
Geſellſchaft wieder fähig zu machen.

2. Nach der Notwehr- oder Verteidigungs-
theorie
, als deren Anhänger Schulze (1813), Martin,
ſowie eine Reihe von franzöſiſchen und italieniſchen Schrift-
ſtellern zu nennen ſind, leitet der Staat ſein Strafrecht ab
aus der durch jedes Verbrechen erzeugten fortwirkenden Ge-
fährdung
ſeiner Rechtsordnung, und dem durch dieſen
Zuſtand begründeten Notrechte, das Fortbeſtehen des Staates
gegen jene Gefahr zu ſichern.

3. Die Vergütungs- oder Wiederherſtellungs-
theorie Welcker’s
(1790—1869) ſieht den Zweck der
Strafe in der Wiederaufhebung des durch das Ver-
brechen verurſachten intellektuellen Schadens (ſo, wie
der civile Erſatz die Beſeitigung des bewirkten materiellen
Schadens bezweckt), und den Rechtsgrund derſelben einerſeits
in der Verpflichtung jedes Rechtsgenoſſen die von ihm be-
wirkte Rechtsverletzung wieder gutzumachen, andrerſeits in dem
Rechte und der Pflicht der Staatsgewalt, die Bürger eventuell
zwangsweiſe zur Erfüllung dieſer Rechtspflicht anzuhalten.

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ſchen Ausführungen iſt Hepp’s „Theorie der bürgerlichen

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[19/0045] Die Strafrechtstheorien. §. 6. Rouſſeau, Fichte u. A. vertreten, leitet das ſtaatliche Recht zu ſtrafen ab aus einem Vertragsverhältniſſe. Durch den „Bürgervertrag“ in ſeinen beiden Beſtandteilen wird die Grenze für den Gebrauch der individuellen Freiheit beſtimmt und gegenſeitiger Schutz der Rechte zugeſichert. Wer den Bürgervertrag bricht, verliert die durch dieſen ihm zugeſicherten Rechte und müßte aus der Rechtsgemeinſchaft ausgeſchloſſen werden, hätte er nicht in dem zu dem Bürger- vertrage hinzutretenden „Abbüßungsvertrag“ das Recht erlangt, durch Abbüßung einer Strafe ſich des Lebens in der Geſellſchaft wieder fähig zu machen. 2. Nach der Notwehr- oder Verteidigungs- theorie, als deren Anhänger Schulze (1813), Martin, ſowie eine Reihe von franzöſiſchen und italieniſchen Schrift- ſtellern zu nennen ſind, leitet der Staat ſein Strafrecht ab aus der durch jedes Verbrechen erzeugten fortwirkenden Ge- fährdung ſeiner Rechtsordnung, und dem durch dieſen Zuſtand begründeten Notrechte, das Fortbeſtehen des Staates gegen jene Gefahr zu ſichern. 3. Die Vergütungs- oder Wiederherſtellungs- theorie Welcker’s (1790—1869) ſieht den Zweck der Strafe in der Wiederaufhebung des durch das Ver- brechen verurſachten intellektuellen Schadens (ſo, wie der civile Erſatz die Beſeitigung des bewirkten materiellen Schadens bezweckt), und den Rechtsgrund derſelben einerſeits in der Verpflichtung jedes Rechtsgenoſſen die von ihm be- wirkte Rechtsverletzung wieder gutzumachen, andrerſeits in dem Rechte und der Pflicht der Staatsgewalt, die Bürger eventuell zwangsweiſe zur Erfüllung dieſer Rechtspflicht anzuhalten. Eine — wenig gelungene — Umarbeitung der Welcker- ſchen Ausführungen iſt Hepp’s „Theorie der bürgerlichen

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Zitationshilfe: Liszt, Franz von: Das deutsche Reichsstrafrecht. Berlin u. a., 1881, S. 19. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liszt_reichsstrafrecht_1881/45>, abgerufen am 29.03.2024.