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Liszt, Franz von: Das Völkerrecht. Berlin, 1898.

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§ 1. Begriff und Einteilung des Völkerrechts.
die, wohl verfrüht, 1856 durch den Pariser Vertrag ausdrücklich
in das "Europäische Konzert" aufgenommen wurde (wenn auch
unter Fortdauer der Kapitulationen; unten § 15). Es hat sich weiter
erstreckt über Europa hinaus auf die selbständig gewordenen
Kolonieen der europäischen Staaten in Nord-, Süd- und Mittel-
Amerika. Es umfasst auch christliche Staaten in andern Weltteilen;
so den Kongostaat, die südafrikanische Republik, den Oranje-Freistaat,
Liberia, Abessinien sowie (das augenblicklich noch selbständige)
Hawai, mögen auch einzelne dieser Staaten, wie Haiti, sich heute
noch mancher Verletzung des Völkerrechts schuldig machen.

Über die Angelegenheit Lüders vgl. R. G. V 103.

Zur Völkerrechtsgemeinschaft muss aber schon heute auch
Japan gerechnet werden. Seine Kultur, obwohl eigenartig, steht
durchaus auf der Durchschnittshöhe der christlich-europäischen
Staaten. Das Land ist seit 1854 dem Verkehr mit den andern
Mächten und dem Einfluss der westlichen Civilisation erschlossen;
in dem siegreichen Krieg mit China von 1894 hat Japan die Regeln
des Völkerrechts strenger beachtet als mancher europäische Staat in
den letzten grossen Kriegen; durch die seit 1894 geschlossenen Ver-
träge hat es sich den Wegfall der Kapitulation (unten § 15) gesichert.
Allerdings sind diese Verträge noch nicht in Kraft getreten; aber die
japanische Regierung hat es in der Hand, den Zeitpunkt zu bestimmen,
in dem das geschehen soll. In diesem Augenblick wird der Eintritt
Japans in das "Europäische Konzert" ausser allem Zweifel sein.

Vgl. Yorikadzu v. Matsudaira, Die völkerrechtlichen Verträge des
Kaisertums Japan in wirtschaftlicher, politischer und rechtlicher Be-
deutung. 1890.

Lehr, R. J. XXVII 97.

2. Die halbcivilisierten Staaten gehören der Völkerrechtsgemein-
schaft nur in denjenigen Beziehungen an, die durch Verträge mit den
Kulturstaaten geregelt sind. Ihnen gegenüber gilt das Völkerrecht
mithin nur als Vertragsrecht und nur soweit als der Vertrag reicht.
Kennzeichen dieser Staatengruppe ist die nur teilweise Erschliessung
des Landes.
Siam, China, Korea, Persien sind an erster Stelle zu
nennen; aber auch die Tongainseln, Marokko und andere Staaten

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§ 1. Begriff und Einteilung des Völkerrechts.
die, wohl verfrüht, 1856 durch den Pariser Vertrag ausdrücklich
in das „Europäische Konzert“ aufgenommen wurde (wenn auch
unter Fortdauer der Kapitulationen; unten § 15). Es hat sich weiter
erstreckt über Europa hinaus auf die selbständig gewordenen
Kolonieen der europäischen Staaten in Nord-, Süd- und Mittel-
Amerika. Es umfaſst auch christliche Staaten in andern Weltteilen;
so den Kongostaat, die südafrikanische Republik, den Oranje-Freistaat,
Liberia, Abessinien sowie (das augenblicklich noch selbständige)
Hawaï, mögen auch einzelne dieser Staaten, wie Haïti, sich heute
noch mancher Verletzung des Völkerrechts schuldig machen.

Über die Angelegenheit Lüders vgl. R. G. V 103.

Zur Völkerrechtsgemeinschaft muſs aber schon heute auch
Japan gerechnet werden. Seine Kultur, obwohl eigenartig, steht
durchaus auf der Durchschnittshöhe der christlich-europäischen
Staaten. Das Land ist seit 1854 dem Verkehr mit den andern
Mächten und dem Einfluſs der westlichen Civilisation erschlossen;
in dem siegreichen Krieg mit China von 1894 hat Japan die Regeln
des Völkerrechts strenger beachtet als mancher europäische Staat in
den letzten groſsen Kriegen; durch die seit 1894 geschlossenen Ver-
träge hat es sich den Wegfall der Kapitulation (unten § 15) gesichert.
Allerdings sind diese Verträge noch nicht in Kraft getreten; aber die
japanische Regierung hat es in der Hand, den Zeitpunkt zu bestimmen,
in dem das geschehen soll. In diesem Augenblick wird der Eintritt
Japans in das „Europäische Konzert“ auſser allem Zweifel sein.

Vgl. Yorikadzu v. Matsudaira, Die völkerrechtlichen Verträge des
Kaisertums Japan in wirtschaftlicher, politischer und rechtlicher Be-
deutung. 1890.

Lehr, R. J. XXVII 97.

2. Die halbcivilisierten Staaten gehören der Völkerrechtsgemein-
schaft nur in denjenigen Beziehungen an, die durch Verträge mit den
Kulturstaaten geregelt sind. Ihnen gegenüber gilt das Völkerrecht
mithin nur als Vertragsrecht und nur soweit als der Vertrag reicht.
Kennzeichen dieser Staatengruppe ist die nur teilweise Erschlieſsung
des Landes.
Siam, China, Korea, Persien sind an erster Stelle zu
nennen; aber auch die Tongainseln, Marokko und andere Staaten

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[3/0025] § 1. Begriff und Einteilung des Völkerrechts. die, wohl verfrüht, 1856 durch den Pariser Vertrag ausdrücklich in das „Europäische Konzert“ aufgenommen wurde (wenn auch unter Fortdauer der Kapitulationen; unten § 15). Es hat sich weiter erstreckt über Europa hinaus auf die selbständig gewordenen Kolonieen der europäischen Staaten in Nord-, Süd- und Mittel- Amerika. Es umfaſst auch christliche Staaten in andern Weltteilen; so den Kongostaat, die südafrikanische Republik, den Oranje-Freistaat, Liberia, Abessinien sowie (das augenblicklich noch selbständige) Hawaï, mögen auch einzelne dieser Staaten, wie Haïti, sich heute noch mancher Verletzung des Völkerrechts schuldig machen. Über die Angelegenheit Lüders vgl. R. G. V 103. Zur Völkerrechtsgemeinschaft muſs aber schon heute auch Japan gerechnet werden. Seine Kultur, obwohl eigenartig, steht durchaus auf der Durchschnittshöhe der christlich-europäischen Staaten. Das Land ist seit 1854 dem Verkehr mit den andern Mächten und dem Einfluſs der westlichen Civilisation erschlossen; in dem siegreichen Krieg mit China von 1894 hat Japan die Regeln des Völkerrechts strenger beachtet als mancher europäische Staat in den letzten groſsen Kriegen; durch die seit 1894 geschlossenen Ver- träge hat es sich den Wegfall der Kapitulation (unten § 15) gesichert. Allerdings sind diese Verträge noch nicht in Kraft getreten; aber die japanische Regierung hat es in der Hand, den Zeitpunkt zu bestimmen, in dem das geschehen soll. In diesem Augenblick wird der Eintritt Japans in das „Europäische Konzert“ auſser allem Zweifel sein. Vgl. Yorikadzu v. Matsudaira, Die völkerrechtlichen Verträge des Kaisertums Japan in wirtschaftlicher, politischer und rechtlicher Be- deutung. 1890. Lehr, R. J. XXVII 97. 2. Die halbcivilisierten Staaten gehören der Völkerrechtsgemein- schaft nur in denjenigen Beziehungen an, die durch Verträge mit den Kulturstaaten geregelt sind. Ihnen gegenüber gilt das Völkerrecht mithin nur als Vertragsrecht und nur soweit als der Vertrag reicht. Kennzeichen dieser Staatengruppe ist die nur teilweise Erschlieſsung des Landes. Siam, China, Korea, Persien sind an erster Stelle zu nennen; aber auch die Tongainseln, Marokko und andere Staaten 1*

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Zitationshilfe: Liszt, Franz von: Das Völkerrecht. Berlin, 1898, S. 3. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liszt_voelkerrecht_1898/25>, abgerufen am 28.03.2024.