Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 2. Berlin, 1776.

Bild:
<< vorherige Seite


I.
Von dem Einflusse der Bevölkerung durch
Nebenwohner, auf die Gesetzgebung.

Der Einfluß einer größern Bevölkerung auf die Sit-
ten eines Landes ist ungemein groß; und er ver-
dient die Aufmerksamkeit des Gesetzgebers, weil
die Policeygesetze sich mit den Sitten verändern müssen. In
einem Lande, wo außer den ursprünglichen Hofgesessenen
höchstens etwa ein Leibzüchter *) vorhanden ist, und folg-
lich ein jeder von seinem Ackerbau ruhig und gnüglich lebt,
ist ein Nachbar dem andern zu allen Pflichten bereit; er
ist mitleidig, gastfrey und uneigennützig, weil jedes Unglück
was da kömmt, heute den einen und morgen den andern
trift, und dergestalt die Reihe hält, daß insgemein in funf-
zig Jahren jeder so viel Dienste, Freundschaft und Bey-
hülfe von seinen Nachbarn wieder empfängt, als er ihnen
erwiesen hat. Hochzeiten, Kindtaufen und Leichen gehen
in diesem Zeitraume gegen einander auf, und keiner spricht
den andern außer dem Falle einer vorhergesehenen Noth um
etwas an, weil ein jeder, was er gebraucht, selbst zieht
und hat. Man kennet in diesem Lande keine Feld- Holz-

oder
*) Die Leibzucht ist der Wittwen- oder des Wittwerssitz auf-
jedem Hofe; in eigentlichen Verstande aber, eine Nutzung
auf Lebenszeit, ususfructus ad dies vitae.
Mösers patr. Phantas. II. Th. A


I.
Von dem Einfluſſe der Bevoͤlkerung durch
Nebenwohner, auf die Geſetzgebung.

Der Einfluß einer groͤßern Bevoͤlkerung auf die Sit-
ten eines Landes iſt ungemein groß; und er ver-
dient die Aufmerkſamkeit des Geſetzgebers, weil
die Policeygeſetze ſich mit den Sitten veraͤndern muͤſſen. In
einem Lande, wo außer den urſpruͤnglichen Hofgeſeſſenen
hoͤchſtens etwa ein Leibzuͤchter *) vorhanden iſt, und folg-
lich ein jeder von ſeinem Ackerbau ruhig und gnuͤglich lebt,
iſt ein Nachbar dem andern zu allen Pflichten bereit; er
iſt mitleidig, gaſtfrey und uneigennuͤtzig, weil jedes Ungluͤck
was da koͤmmt, heute den einen und morgen den andern
trift, und dergeſtalt die Reihe haͤlt, daß insgemein in funf-
zig Jahren jeder ſo viel Dienſte, Freundſchaft und Bey-
huͤlfe von ſeinen Nachbarn wieder empfaͤngt, als er ihnen
erwieſen hat. Hochzeiten, Kindtaufen und Leichen gehen
in dieſem Zeitraume gegen einander auf, und keiner ſpricht
den andern außer dem Falle einer vorhergeſehenen Noth um
etwas an, weil ein jeder, was er gebraucht, ſelbſt zieht
und hat. Man kennet in dieſem Lande keine Feld- Holz-

oder
*) Die Leibzucht iſt der Wittwen- oder des Wittwersſitz auf-
jedem Hofe; in eigentlichen Verſtande aber, eine Nutzung
auf Lebenszeit, uſusfructus ad dies vitæ.
Möſers patr. Phantaſ. II. Th. A
<TEI>
  <text>
    <body>
      <pb facs="#f0019" n="1"/>
      <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
      <div n="1">
        <head> <hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">I.</hi><lb/>
Von dem Einflu&#x017F;&#x017F;e der Bevo&#x0364;lkerung durch<lb/>
Nebenwohner, auf die Ge&#x017F;etzgebung.</hi> </head><lb/>
        <p>Der Einfluß einer gro&#x0364;ßern Bevo&#x0364;lkerung auf die Sit-<lb/>
ten eines Landes i&#x017F;t ungemein groß; und er ver-<lb/>
dient die Aufmerk&#x017F;amkeit des Ge&#x017F;etzgebers, weil<lb/>
die Policeyge&#x017F;etze &#x017F;ich mit den Sitten vera&#x0364;ndern mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en. In<lb/>
einem Lande, wo außer den ur&#x017F;pru&#x0364;nglichen Hofge&#x017F;e&#x017F;&#x017F;enen<lb/>
ho&#x0364;ch&#x017F;tens etwa ein Leibzu&#x0364;chter <note place="foot" n="*)">Die Leibzucht i&#x017F;t der Wittwen- oder des Wittwers&#x017F;itz auf-<lb/>
jedem Hofe; in eigentlichen Ver&#x017F;tande aber, eine Nutzung<lb/>
auf Lebenszeit, <hi rendition="#aq">u&#x017F;usfructus ad dies vitæ.</hi></note> vorhanden i&#x017F;t, und folg-<lb/>
lich ein jeder von &#x017F;einem Ackerbau ruhig und gnu&#x0364;glich lebt,<lb/>
i&#x017F;t ein Nachbar dem andern zu allen Pflichten bereit; er<lb/>
i&#x017F;t mitleidig, ga&#x017F;tfrey und uneigennu&#x0364;tzig, weil jedes Unglu&#x0364;ck<lb/>
was da ko&#x0364;mmt, heute den einen und morgen den andern<lb/>
trift, und derge&#x017F;talt die Reihe ha&#x0364;lt, daß insgemein in funf-<lb/>
zig Jahren jeder &#x017F;o viel Dien&#x017F;te, Freund&#x017F;chaft und Bey-<lb/>
hu&#x0364;lfe von &#x017F;einen Nachbarn wieder empfa&#x0364;ngt, als er ihnen<lb/>
erwie&#x017F;en hat. Hochzeiten, Kindtaufen und Leichen gehen<lb/>
in die&#x017F;em Zeitraume gegen einander auf, und keiner &#x017F;pricht<lb/>
den andern außer dem Falle einer vorherge&#x017F;ehenen Noth um<lb/>
etwas an, weil ein jeder, was er gebraucht, &#x017F;elb&#x017F;t zieht<lb/>
und hat. Man kennet in die&#x017F;em Lande keine Feld- Holz-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">oder</fw><lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#fr">&#x017F;ers patr. Phanta&#x017F;.</hi><hi rendition="#aq">II.</hi><hi rendition="#fr">Th. A</hi></fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[1/0019] I. Von dem Einfluſſe der Bevoͤlkerung durch Nebenwohner, auf die Geſetzgebung. Der Einfluß einer groͤßern Bevoͤlkerung auf die Sit- ten eines Landes iſt ungemein groß; und er ver- dient die Aufmerkſamkeit des Geſetzgebers, weil die Policeygeſetze ſich mit den Sitten veraͤndern muͤſſen. In einem Lande, wo außer den urſpruͤnglichen Hofgeſeſſenen hoͤchſtens etwa ein Leibzuͤchter *) vorhanden iſt, und folg- lich ein jeder von ſeinem Ackerbau ruhig und gnuͤglich lebt, iſt ein Nachbar dem andern zu allen Pflichten bereit; er iſt mitleidig, gaſtfrey und uneigennuͤtzig, weil jedes Ungluͤck was da koͤmmt, heute den einen und morgen den andern trift, und dergeſtalt die Reihe haͤlt, daß insgemein in funf- zig Jahren jeder ſo viel Dienſte, Freundſchaft und Bey- huͤlfe von ſeinen Nachbarn wieder empfaͤngt, als er ihnen erwieſen hat. Hochzeiten, Kindtaufen und Leichen gehen in dieſem Zeitraume gegen einander auf, und keiner ſpricht den andern außer dem Falle einer vorhergeſehenen Noth um etwas an, weil ein jeder, was er gebraucht, ſelbſt zieht und hat. Man kennet in dieſem Lande keine Feld- Holz- oder *) Die Leibzucht iſt der Wittwen- oder des Wittwersſitz auf- jedem Hofe; in eigentlichen Verſtande aber, eine Nutzung auf Lebenszeit, uſusfructus ad dies vitæ. Möſers patr. Phantaſ. II. Th. A

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien02_1776
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien02_1776/19
Zitationshilfe: Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 2. Berlin, 1776, S. 1. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien02_1776/19>, abgerufen am 19.04.2024.