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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854.

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KAPITEL I.


Aenderung der Verfassung. Beschränkung der
Magistratsgewalt
.

Der strenge Begriff der Einheit und Allgewalt des Staa-
tes, dieser Schwerpunct der italischen Verfassungen, legte in
die Hände des einzigen auf Lebenszeit ernannten Vorstehers
der Gemeinde eine furchtbare Gewalt, die wohl der Landesfeind
empfand, aber nicht minder schwer der Bürger. Missbrauch
und Druck konnte nicht ausbleiben, und hiervon die nothwen-
dige Folge waren Bestrebungen jene Gewalt zu beschränken;
aber das ist das Grossartige in diesen römischen Reformversu-
chen und Revolutionen, dass man nie unternimmt weder die
Omnipotenz des Staates zu beschränken noch auch nur sie ent-
sprechender Organe zu berauben, dass man nie die sogenann-
ten natürlichen Rechte des Einzelnen gegen die Gemeinde
geltend zu machen versucht, sondern dass der ganze Sturm
sich richtet gegen die Form der Gemeindevertretung durch
den Willen eines Einzigen. Nicht Begrenzung der Staats-,
sondern Begrenzung der Beamtenmacht ist der Ruf der römi-
schen Fortschrittspartei von den Zeiten der Tarquinier bis auf
die der Gracchen; und auch dabei vergisst man nie, dass das
Volk regiert werden soll und nicht regieren.

Dieser Kampf bewegt sich innerhalb der Bürgerschaft.
Ihm zur Seite entwickelt sich eine andere Bewegung: der
Ruf der Nichtbürger um politische Gleichberechtigung. Dahin
gehören die Agitationen der Plebejer, der Latiner, der Itali-
ker, der Freigelassenen, welche alle, mochten sie Bürger ge-

KAPITEL I.


Aenderung der Verfassung. Beschränkung der
Magistratsgewalt
.

Der strenge Begriff der Einheit und Allgewalt des Staa-
tes, dieser Schwerpunct der italischen Verfassungen, legte in
die Hände des einzigen auf Lebenszeit ernannten Vorstehers
der Gemeinde eine furchtbare Gewalt, die wohl der Landesfeind
empfand, aber nicht minder schwer der Bürger. Miſsbrauch
und Druck konnte nicht ausbleiben, und hiervon die nothwen-
dige Folge waren Bestrebungen jene Gewalt zu beschränken;
aber das ist das Groſsartige in diesen römischen Reformversu-
chen und Revolutionen, daſs man nie unternimmt weder die
Omnipotenz des Staates zu beschränken noch auch nur sie ent-
sprechender Organe zu berauben, daſs man nie die sogenann-
ten natürlichen Rechte des Einzelnen gegen die Gemeinde
geltend zu machen versucht, sondern daſs der ganze Sturm
sich richtet gegen die Form der Gemeindevertretung durch
den Willen eines Einzigen. Nicht Begrenzung der Staats-,
sondern Begrenzung der Beamtenmacht ist der Ruf der römi-
schen Fortschrittspartei von den Zeiten der Tarquinier bis auf
die der Gracchen; und auch dabei vergiſst man nie, daſs das
Volk regiert werden soll und nicht regieren.

Dieser Kampf bewegt sich innerhalb der Bürgerschaft.
Ihm zur Seite entwickelt sich eine andere Bewegung: der
Ruf der Nichtbürger um politische Gleichberechtigung. Dahin
gehören die Agitationen der Plebejer, der Latiner, der Itali-
ker, der Freigelassenen, welche alle, mochten sie Bürger ge-

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[[157]/0171] KAPITEL I. Aenderung der Verfassung. Beschränkung der Magistratsgewalt. Der strenge Begriff der Einheit und Allgewalt des Staa- tes, dieser Schwerpunct der italischen Verfassungen, legte in die Hände des einzigen auf Lebenszeit ernannten Vorstehers der Gemeinde eine furchtbare Gewalt, die wohl der Landesfeind empfand, aber nicht minder schwer der Bürger. Miſsbrauch und Druck konnte nicht ausbleiben, und hiervon die nothwen- dige Folge waren Bestrebungen jene Gewalt zu beschränken; aber das ist das Groſsartige in diesen römischen Reformversu- chen und Revolutionen, daſs man nie unternimmt weder die Omnipotenz des Staates zu beschränken noch auch nur sie ent- sprechender Organe zu berauben, daſs man nie die sogenann- ten natürlichen Rechte des Einzelnen gegen die Gemeinde geltend zu machen versucht, sondern daſs der ganze Sturm sich richtet gegen die Form der Gemeindevertretung durch den Willen eines Einzigen. Nicht Begrenzung der Staats-, sondern Begrenzung der Beamtenmacht ist der Ruf der römi- schen Fortschrittspartei von den Zeiten der Tarquinier bis auf die der Gracchen; und auch dabei vergiſst man nie, daſs das Volk regiert werden soll und nicht regieren. Dieser Kampf bewegt sich innerhalb der Bürgerschaft. Ihm zur Seite entwickelt sich eine andere Bewegung: der Ruf der Nichtbürger um politische Gleichberechtigung. Dahin gehören die Agitationen der Plebejer, der Latiner, der Itali- ker, der Freigelassenen, welche alle, mochten sie Bürger ge-

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854, S. [157]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische01_1854/171>, abgerufen am 18.04.2024.