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Musäus, Johann Karl August: Physiognomische Reisen. Bd. 1, 2. Aufl. Altenburg, 1779.

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urtheilt nicht blos aus einer, nicht einmal
aus mehrern Handlungen, er beobachtet
die Anlagen, den Charakter, die Grund-
kräfte, die Hauptstärke, denen sehr oft ein-
zelne Zufälligkeiten durchaus zu widerspre-
chen scheinen. Die zärteste Engelsseele hat
ihre Teufelsaugenblicke, sollte die Sophie
deren nicht auch haben? Unglüklicher Weis'
hat sich eben die Gelegenheit bey denselben
gefügt, daß das Böse aus dem actu primo
in den actum secundum übergegangen, wie
die Philosophi zu reden pflegen. Jch ver-
muth', daß die gute Sophie in ihrem Le-
ben nicht mehr als zwey Teufelsaugen-
blick' gehabt hat; aber die hat sie denn
doch auch gewiß gehabt. Einmal in der
unglüklichen Schäferstund, die den armen
Dingern, den iungen Mädchen überhaupt
gar fatal ist, daß sie sich davor mehr
als vor Feuer und Wasser wahren sollten;
das andremal, als sie den Diebsgriff in
mein Pathengeld thät, da hieß es wohl
recht: Gelegenheit macht Diebe. Jnzwi-
schen kan damit die Engelseel gar wohl be-
stehen.

Um

urtheilt nicht blos aus einer, nicht einmal
aus mehrern Handlungen, er beobachtet
die Anlagen, den Charakter, die Grund-
kraͤfte, die Hauptſtaͤrke, denen ſehr oft ein-
zelne Zufaͤlligkeiten durchaus zu widerſpre-
chen ſcheinen. Die zaͤrteſte Engelsſeele hat
ihre Teufelsaugenblicke, ſollte die Sophie
deren nicht auch haben? Ungluͤklicher Weiſ’
hat ſich eben die Gelegenheit bey denſelben
gefuͤgt, daß das Boͤſe aus dem actu primo
in den actum ſecundum uͤbergegangen, wie
die Philoſophi zu reden pflegen. Jch ver-
muth’, daß die gute Sophie in ihrem Le-
ben nicht mehr als zwey Teufelsaugen-
blick’ gehabt hat; aber die hat ſie denn
doch auch gewiß gehabt. Einmal in der
ungluͤklichen Schaͤferſtund, die den armen
Dingern, den iungen Maͤdchen uͤberhaupt
gar fatal iſt, daß ſie ſich davor mehr
als vor Feuer und Waſſer wahren ſollten;
das andremal, als ſie den Diebsgriff in
mein Pathengeld thaͤt, da hieß es wohl
recht: Gelegenheit macht Diebe. Jnzwi-
ſchen kan damit die Engelſeel gar wohl be-
ſtehen.

Um
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[198/0204] urtheilt nicht blos aus einer, nicht einmal aus mehrern Handlungen, er beobachtet die Anlagen, den Charakter, die Grund- kraͤfte, die Hauptſtaͤrke, denen ſehr oft ein- zelne Zufaͤlligkeiten durchaus zu widerſpre- chen ſcheinen. Die zaͤrteſte Engelsſeele hat ihre Teufelsaugenblicke, ſollte die Sophie deren nicht auch haben? Ungluͤklicher Weiſ’ hat ſich eben die Gelegenheit bey denſelben gefuͤgt, daß das Boͤſe aus dem actu primo in den actum ſecundum uͤbergegangen, wie die Philoſophi zu reden pflegen. Jch ver- muth’, daß die gute Sophie in ihrem Le- ben nicht mehr als zwey Teufelsaugen- blick’ gehabt hat; aber die hat ſie denn doch auch gewiß gehabt. Einmal in der ungluͤklichen Schaͤferſtund, die den armen Dingern, den iungen Maͤdchen uͤberhaupt gar fatal iſt, daß ſie ſich davor mehr als vor Feuer und Waſſer wahren ſollten; das andremal, als ſie den Diebsgriff in mein Pathengeld thaͤt, da hieß es wohl recht: Gelegenheit macht Diebe. Jnzwi- ſchen kan damit die Engelſeel gar wohl be- ſtehen. Um

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Zitationshilfe: Musäus, Johann Karl August: Physiognomische Reisen. Bd. 1, 2. Aufl. Altenburg, 1779, S. 198. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/musaeus_reisen01_1779/204>, abgerufen am 24.04.2024.