Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Musäus, Johann Karl August: Physiognomische Reisen. Bd. 1, 2. Aufl. Altenburg, 1779.

Bild:
<< vorherige Seite
Um 1 Uhr.

Hat mir kein Bissen zu Mittag schmecken
wollen. Macht's daß die Sophie, mit
ihrer niedlichen Hand mir nicht mehr vor-
legt; oder ist mir der Schreck über ihre
Flucht in Magen gefahren? Will 'naus
unterm Schatten des wilden Birnbaums,
meinem Herzen Luft zu machen.

Um 6 Uhr.

Die Kur hat nicht anschlagen wollen. --
Komm so schwermüthig vom Feld' wieder
nach Haus als ich hinaus gegangen war.
Hab meinem verschwiegnen Busenfreunde,
dem einzigen, dem ich vielleicht noch auf
Erden vertrauen kan, mein Leid geklagt.
'S war nicht anders als wenn aus dem
ehrwürdigen Wipfel sein Mitleid auf mich
herab säuselte. Verschämt bewegten sich
seine belasteten Aeste niederwärts, als
wollt' er den Namen der Ungetreuen damit
bedecken, den ich in einer glücklichen Stun-
de tief in seine Rinde grub; doch tiefer ist
er mir ins Herz geschrieben. Und wenn
nach manchem Sommer, die kenntbaren
Züge dort verwachsen und hier verlöschen,

wird
Um 1 Uhr.

Hat mir kein Biſſen zu Mittag ſchmecken
wollen. Macht’s daß die Sophie, mit
ihrer niedlichen Hand mir nicht mehr vor-
legt; oder iſt mir der Schreck uͤber ihre
Flucht in Magen gefahren? Will ’naus
unterm Schatten des wilden Birnbaums,
meinem Herzen Luft zu machen.

Um 6 Uhr.

Die Kur hat nicht anſchlagen wollen. —
Komm ſo ſchwermuͤthig vom Feld’ wieder
nach Haus als ich hinaus gegangen war.
Hab meinem verſchwiegnen Buſenfreunde,
dem einzigen, dem ich vielleicht noch auf
Erden vertrauen kan, mein Leid geklagt.
’S war nicht anders als wenn aus dem
ehrwuͤrdigen Wipfel ſein Mitleid auf mich
herab ſaͤuſelte. Verſchaͤmt bewegten ſich
ſeine belaſteten Aeſte niederwaͤrts, als
wollt’ er den Namen der Ungetreuen damit
bedecken, den ich in einer gluͤcklichen Stun-
de tief in ſeine Rinde grub; doch tiefer iſt
er mir ins Herz geſchrieben. Und wenn
nach manchem Sommer, die kenntbaren
Zuͤge dort verwachſen und hier verloͤſchen,

wird
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0205" n="199"/>
          <div n="3">
            <head> <hi rendition="#b">Um 1 Uhr.</hi> </head><lb/>
            <p><hi rendition="#in">H</hi>at mir kein Bi&#x017F;&#x017F;en zu Mittag &#x017F;chmecken<lb/>
wollen. Macht&#x2019;s daß die Sophie, mit<lb/>
ihrer niedlichen Hand mir nicht mehr vor-<lb/>
legt; oder i&#x017F;t mir der Schreck u&#x0364;ber ihre<lb/>
Flucht in Magen gefahren? Will &#x2019;naus<lb/>
unterm Schatten des wilden Birnbaums,<lb/>
meinem Herzen Luft zu machen.</p>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head> <hi rendition="#b">Um 6 Uhr.</hi> </head><lb/>
            <p><hi rendition="#in">D</hi>ie Kur hat nicht an&#x017F;chlagen wollen. &#x2014;<lb/>
Komm &#x017F;o &#x017F;chwermu&#x0364;thig vom Feld&#x2019; wieder<lb/>
nach Haus als ich hinaus gegangen war.<lb/>
Hab meinem ver&#x017F;chwiegnen Bu&#x017F;enfreunde,<lb/>
dem einzigen, dem ich vielleicht noch auf<lb/>
Erden vertrauen kan, mein Leid geklagt.<lb/>
&#x2019;S war nicht anders als wenn aus dem<lb/>
ehrwu&#x0364;rdigen Wipfel &#x017F;ein Mitleid auf mich<lb/>
herab &#x017F;a&#x0364;u&#x017F;elte. Ver&#x017F;cha&#x0364;mt bewegten &#x017F;ich<lb/>
&#x017F;eine bela&#x017F;teten Ae&#x017F;te niederwa&#x0364;rts, als<lb/>
wollt&#x2019; er den Namen der Ungetreuen damit<lb/>
bedecken, den ich in einer glu&#x0364;cklichen Stun-<lb/>
de tief in &#x017F;eine Rinde grub; doch tiefer i&#x017F;t<lb/>
er mir ins Herz ge&#x017F;chrieben. Und wenn<lb/>
nach manchem Sommer, die kenntbaren<lb/>
Zu&#x0364;ge dort verwach&#x017F;en und hier verlo&#x0364;&#x017F;chen,<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">wird</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[199/0205] Um 1 Uhr. Hat mir kein Biſſen zu Mittag ſchmecken wollen. Macht’s daß die Sophie, mit ihrer niedlichen Hand mir nicht mehr vor- legt; oder iſt mir der Schreck uͤber ihre Flucht in Magen gefahren? Will ’naus unterm Schatten des wilden Birnbaums, meinem Herzen Luft zu machen. Um 6 Uhr. Die Kur hat nicht anſchlagen wollen. — Komm ſo ſchwermuͤthig vom Feld’ wieder nach Haus als ich hinaus gegangen war. Hab meinem verſchwiegnen Buſenfreunde, dem einzigen, dem ich vielleicht noch auf Erden vertrauen kan, mein Leid geklagt. ’S war nicht anders als wenn aus dem ehrwuͤrdigen Wipfel ſein Mitleid auf mich herab ſaͤuſelte. Verſchaͤmt bewegten ſich ſeine belaſteten Aeſte niederwaͤrts, als wollt’ er den Namen der Ungetreuen damit bedecken, den ich in einer gluͤcklichen Stun- de tief in ſeine Rinde grub; doch tiefer iſt er mir ins Herz geſchrieben. Und wenn nach manchem Sommer, die kenntbaren Zuͤge dort verwachſen und hier verloͤſchen, wird

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/musaeus_reisen01_1779
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/musaeus_reisen01_1779/205
Zitationshilfe: Musäus, Johann Karl August: Physiognomische Reisen. Bd. 1, 2. Aufl. Altenburg, 1779, S. 199. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/musaeus_reisen01_1779/205>, abgerufen am 28.03.2024.