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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899.

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dass Erfahrung der Forderung des Unbedingten nie genügen
kann, sondern auch die ganz positive, dass die Richtung
des Fortschritts im Bedingten der Erfahrung durch
den Ausblick aufs Unbedingte bestimmt ist
.

Der Prozess der Erfahrung selbst lässt sich als Fort-
schritt zum Wahreren überhaupt nur denken im Hinblick auf
das Ziel im unbedingt Wahren. Ein Fortschritt besagt doch
nicht bloss eine Folge von Schritten, sondern eine dabei ein-
gehaltene Richtung. Die Erkenntnis dieser Richtung des
empirischen Fortschritts, vollends die Erkenntnis, dass der da-
durch bestimmte Fortschritt ins Unendliche geht, ist aber nicht
mehr empirische Erkenntnis. Sie entspringt vielmehr erst in
der Betrachtung alles Empirischen aus dem nicht mehr em-
pirischen Gesichtspunkte der Idee. Sie nimmt, insofern sie
das Empirische zum Stoff hat, an der Bedingtheit der Erfah-
rung zwar teil; an sich aber, hinsichtlich der ihr eigenen
Form, nämlich der Richtung aufs Unbedingte als Ziel, ist sie
von strenger Gewissheit, allem Schwanken der Erfahrung ent-
zogen.

Diese und keine andre Erkenntnisart aber, behaupten wir,
ist die praktische, mithin die, in deren Gebiet der Wille in
seiner objektiven Gestalt zu suchen ist. Das ist jetzt zu zeigen.

§ 6.
Das Gebiet des Willens: praktische Erkenntnis oder Idee.

Nicht aus dem Zusammenhange der Naturbegriffe lässt
ein Sollen im praktischen Sinn sich verständlich machen. Natur
ist Ordnung des Geschehens unter Zeitgesetzen des Geschehens.
Da giebt es nur Thatsachen und Zusammenhänge von That-
sachen, durch logische Unterordnung einzelner Folgen von
Ereignissen unter allgemeine und allgemeinere, d. i. unter Ge-
setze. Auch die so erreichte Einheit der Erkenntnis ruht
zwar auf keinem andern letzten Grunde als dem der ursprüng-
lichen Einheit des Bewusstseins. Aber die Einheit empirischer
Erkenntnisse, vollends der gesamten Erfahrungserkenntnis, ist
jederzeit unvollendet und unvollendbar. Man denkt zwar

dass Erfahrung der Forderung des Unbedingten nie genügen
kann, sondern auch die ganz positive, dass die Richtung
des Fortschritts im Bedingten der Erfahrung durch
den Ausblick aufs Unbedingte bestimmt ist
.

Der Prozess der Erfahrung selbst lässt sich als Fort-
schritt zum Wahreren überhaupt nur denken im Hinblick auf
das Ziel im unbedingt Wahren. Ein Fortschritt besagt doch
nicht bloss eine Folge von Schritten, sondern eine dabei ein-
gehaltene Richtung. Die Erkenntnis dieser Richtung des
empirischen Fortschritts, vollends die Erkenntnis, dass der da-
durch bestimmte Fortschritt ins Unendliche geht, ist aber nicht
mehr empirische Erkenntnis. Sie entspringt vielmehr erst in
der Betrachtung alles Empirischen aus dem nicht mehr em-
pirischen Gesichtspunkte der Idee. Sie nimmt, insofern sie
das Empirische zum Stoff hat, an der Bedingtheit der Erfah-
rung zwar teil; an sich aber, hinsichtlich der ihr eigenen
Form, nämlich der Richtung aufs Unbedingte als Ziel, ist sie
von strenger Gewissheit, allem Schwanken der Erfahrung ent-
zogen.

Diese und keine andre Erkenntnisart aber, behaupten wir,
ist die praktische, mithin die, in deren Gebiet der Wille in
seiner objektiven Gestalt zu suchen ist. Das ist jetzt zu zeigen.

§ 6.
Das Gebiet des Willens: praktische Erkenntnis oder Idee.

Nicht aus dem Zusammenhange der Naturbegriffe lässt
ein Sollen im praktischen Sinn sich verständlich machen. Natur
ist Ordnung des Geschehens unter Zeitgesetzen des Geschehens.
Da giebt es nur Thatsachen und Zusammenhänge von That-
sachen, durch logische Unterordnung einzelner Folgen von
Ereignissen unter allgemeine und allgemeinere, d. i. unter Ge-
setze. Auch die so erreichte Einheit der Erkenntnis ruht
zwar auf keinem andern letzten Grunde als dem der ursprüng-
lichen Einheit des Bewusstseins. Aber die Einheit empirischer
Erkenntnisse, vollends der gesamten Erfahrungserkenntnis, ist
jederzeit unvollendet und unvollendbar. Man denkt zwar

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[34/0050] dass Erfahrung der Forderung des Unbedingten nie genügen kann, sondern auch die ganz positive, dass die Richtung des Fortschritts im Bedingten der Erfahrung durch den Ausblick aufs Unbedingte bestimmt ist. Der Prozess der Erfahrung selbst lässt sich als Fort- schritt zum Wahreren überhaupt nur denken im Hinblick auf das Ziel im unbedingt Wahren. Ein Fortschritt besagt doch nicht bloss eine Folge von Schritten, sondern eine dabei ein- gehaltene Richtung. Die Erkenntnis dieser Richtung des empirischen Fortschritts, vollends die Erkenntnis, dass der da- durch bestimmte Fortschritt ins Unendliche geht, ist aber nicht mehr empirische Erkenntnis. Sie entspringt vielmehr erst in der Betrachtung alles Empirischen aus dem nicht mehr em- pirischen Gesichtspunkte der Idee. Sie nimmt, insofern sie das Empirische zum Stoff hat, an der Bedingtheit der Erfah- rung zwar teil; an sich aber, hinsichtlich der ihr eigenen Form, nämlich der Richtung aufs Unbedingte als Ziel, ist sie von strenger Gewissheit, allem Schwanken der Erfahrung ent- zogen. Diese und keine andre Erkenntnisart aber, behaupten wir, ist die praktische, mithin die, in deren Gebiet der Wille in seiner objektiven Gestalt zu suchen ist. Das ist jetzt zu zeigen. § 6. Das Gebiet des Willens: praktische Erkenntnis oder Idee. Nicht aus dem Zusammenhange der Naturbegriffe lässt ein Sollen im praktischen Sinn sich verständlich machen. Natur ist Ordnung des Geschehens unter Zeitgesetzen des Geschehens. Da giebt es nur Thatsachen und Zusammenhänge von That- sachen, durch logische Unterordnung einzelner Folgen von Ereignissen unter allgemeine und allgemeinere, d. i. unter Ge- setze. Auch die so erreichte Einheit der Erkenntnis ruht zwar auf keinem andern letzten Grunde als dem der ursprüng- lichen Einheit des Bewusstseins. Aber die Einheit empirischer Erkenntnisse, vollends der gesamten Erfahrungserkenntnis, ist jederzeit unvollendet und unvollendbar. Man denkt zwar

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Zitationshilfe: Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 34. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/50>, abgerufen am 28.03.2024.