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Niebuhr, Barthold Georg: Römische Geschichte. T. 1. Berlin, 1811.

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gänzlich das moralische und poetische Interesse der frühe-
ren Jahrhunderte, welches schon längst durch Zerrüttun-
gen und Gräuel, und das Absterben aller einheimischen
Tugenden getrübt war. Es scheint der Gang der Welt-
geschichte zu seyn, daß Eroberungen und vielfache Ver-
mischung die ursprünglich zahllosen Stämme in einander
schmelzen, und die, welche dieser Verschmelzung unfähig
sind, austilgen; und dies hat die Römische Herrschaft in
einem größern Maaß und Umkreise, als irgend eine an-
dre große Weltrevolution, selbst als die arabische, be-
wirkt. Selten wird bey dieser Vermischung für einzelne
Völker Gewinn seyn; einige verlieren unersetzbaren Besitz
einer edeln einheimischen Bildung, Wissenschaft und Lit-
teratur; schwerlich ersetzt auch ungebildeteren Völkern eine
feinere, doch auch sonst, wenn sie ihrer Natur angemes-
sen war, nicht unerreichbare Cultur die Einbuße ihrer ur-
sprünglichen Sprache, und mit ihr eigenthümlicher Sin-
nesart, einer Landesgeschichte und ererbter Gesetze. Die-
sen Verlust empfanden zuerst die Provinzialen, aber in-
dem Roms und Italiens Bevölkerung sich aus ihnen und
aus Freygelassenen erneuerte, büßte Rom in gleichem
Maaße: seine Vorzeit und ihre Geschichte ward ihm so
fremd, daß schon im dritten Jahrhundert unsrer Zeitrech-
nung ein demüthiger Lobredner ohne Furcht zu beleidigen
zweifeln konnte, ob sein von ihm dem großen Scipio ver-
glichener Herr vom hannibalischen Kriege wisse 5): daß
Valens dem Eutropius auftrug, ihm eine dürftige Ueber-
sicht der Geschichte zu schreiben, weil sie ihm ganz unbe-

5) Panegyr. Maximiani, c. 8.

gaͤnzlich das moraliſche und poetiſche Intereſſe der fruͤhe-
ren Jahrhunderte, welches ſchon laͤngſt durch Zerruͤttun-
gen und Graͤuel, und das Abſterben aller einheimiſchen
Tugenden getruͤbt war. Es ſcheint der Gang der Welt-
geſchichte zu ſeyn, daß Eroberungen und vielfache Ver-
miſchung die urſpruͤnglich zahlloſen Staͤmme in einander
ſchmelzen, und die, welche dieſer Verſchmelzung unfaͤhig
ſind, austilgen; und dies hat die Roͤmiſche Herrſchaft in
einem groͤßern Maaß und Umkreiſe, als irgend eine an-
dre große Weltrevolution, ſelbſt als die arabiſche, be-
wirkt. Selten wird bey dieſer Vermiſchung fuͤr einzelne
Voͤlker Gewinn ſeyn; einige verlieren unerſetzbaren Beſitz
einer edeln einheimiſchen Bildung, Wiſſenſchaft und Lit-
teratur; ſchwerlich erſetzt auch ungebildeteren Voͤlkern eine
feinere, doch auch ſonſt, wenn ſie ihrer Natur angemeſ-
ſen war, nicht unerreichbare Cultur die Einbuße ihrer ur-
ſpruͤnglichen Sprache, und mit ihr eigenthuͤmlicher Sin-
nesart, einer Landesgeſchichte und ererbter Geſetze. Die-
ſen Verluſt empfanden zuerſt die Provinzialen, aber in-
dem Roms und Italiens Bevoͤlkerung ſich aus ihnen und
aus Freygelaſſenen erneuerte, buͤßte Rom in gleichem
Maaße: ſeine Vorzeit und ihre Geſchichte ward ihm ſo
fremd, daß ſchon im dritten Jahrhundert unſrer Zeitrech-
nung ein demuͤthiger Lobredner ohne Furcht zu beleidigen
zweifeln konnte, ob ſein von ihm dem großen Scipio ver-
glichener Herr vom hannibaliſchen Kriege wiſſe 5): daß
Valens dem Eutropius auftrug, ihm eine duͤrftige Ueber-
ſicht der Geſchichte zu ſchreiben, weil ſie ihm ganz unbe-

5) Panegyr. Maximiani, c. 8.
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[15/0037] gaͤnzlich das moraliſche und poetiſche Intereſſe der fruͤhe- ren Jahrhunderte, welches ſchon laͤngſt durch Zerruͤttun- gen und Graͤuel, und das Abſterben aller einheimiſchen Tugenden getruͤbt war. Es ſcheint der Gang der Welt- geſchichte zu ſeyn, daß Eroberungen und vielfache Ver- miſchung die urſpruͤnglich zahlloſen Staͤmme in einander ſchmelzen, und die, welche dieſer Verſchmelzung unfaͤhig ſind, austilgen; und dies hat die Roͤmiſche Herrſchaft in einem groͤßern Maaß und Umkreiſe, als irgend eine an- dre große Weltrevolution, ſelbſt als die arabiſche, be- wirkt. Selten wird bey dieſer Vermiſchung fuͤr einzelne Voͤlker Gewinn ſeyn; einige verlieren unerſetzbaren Beſitz einer edeln einheimiſchen Bildung, Wiſſenſchaft und Lit- teratur; ſchwerlich erſetzt auch ungebildeteren Voͤlkern eine feinere, doch auch ſonſt, wenn ſie ihrer Natur angemeſ- ſen war, nicht unerreichbare Cultur die Einbuße ihrer ur- ſpruͤnglichen Sprache, und mit ihr eigenthuͤmlicher Sin- nesart, einer Landesgeſchichte und ererbter Geſetze. Die- ſen Verluſt empfanden zuerſt die Provinzialen, aber in- dem Roms und Italiens Bevoͤlkerung ſich aus ihnen und aus Freygelaſſenen erneuerte, buͤßte Rom in gleichem Maaße: ſeine Vorzeit und ihre Geſchichte ward ihm ſo fremd, daß ſchon im dritten Jahrhundert unſrer Zeitrech- nung ein demuͤthiger Lobredner ohne Furcht zu beleidigen zweifeln konnte, ob ſein von ihm dem großen Scipio ver- glichener Herr vom hannibaliſchen Kriege wiſſe 5): daß Valens dem Eutropius auftrug, ihm eine duͤrftige Ueber- ſicht der Geſchichte zu ſchreiben, weil ſie ihm ganz unbe- 5) Panegyr. Maximiani, c. 8.

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Zitationshilfe: Niebuhr, Barthold Georg: Römische Geschichte. T. 1. Berlin, 1811, S. 15. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/niebuhr_roemische01_1811/37>, abgerufen am 24.04.2024.