Die gläubigsten Anhänger der Meinung von einer angeblichen eigentlichen Geschichte der ältesten Zeiten Roms könnten uns die Aufforderung nicht abschlagen etruskischen Geschichtsbüchern die Entscheidung zu überlas- sen, wenn ein wunderbarer Glücksfall sie uns in einer verständlichen Sprache verschaffte. Denn sie müssen ein- räumen, daß Etrurien eine weit ältere Litteratur als Rom hatte, und daß die ältesten römischen Schrift- steller den jüngsten etruskischen in der Zeit nur gleich gestanden haben können.
Es hat sich aber in der That eine Nachricht von dem erhalten was jene Historien über einen bey den Römern sehr bestimmt ausgebildeten Theil sogar der späteren königlichen Geschichte meldeten, welche zur Ent- scheidung genügt; indem es darnach unwidersprechlich ist daß die etruskischen Annalen über die römischen Kö- nige eine mit der unsrigen schlechterdings unvereinbare Geschichte enthielten. Sie findet sich in den Fragmen- ten der Rede des Kaisers Claudius über die Aufnahme vornehmer Gallier in den Senat, welche seit Lipsius nicht selten mit Tacitus Werken gedruckt sind, aber wohl selten einen Leser finden. Das sollte nicht seyn, schon wegen ihrer litterarischen und psychologischen Merkwür- digkeit, worüber zu reden hier freylich der Raum nicht erlaubt. Noch wichtiger aber ist ihr historischer In- halt, und es ist unmöglich nach ihnen den Verlust der
Zweiter Theil. L l
3. Servius Tullius und Caͤles Vibenna.
Die glaͤubigſten Anhaͤnger der Meinung von einer angeblichen eigentlichen Geſchichte der aͤlteſten Zeiten Roms koͤnnten uns die Aufforderung nicht abſchlagen etruſkiſchen Geſchichtsbuͤchern die Entſcheidung zu uͤberlaſ- ſen, wenn ein wunderbarer Gluͤcksfall ſie uns in einer verſtaͤndlichen Sprache verſchaffte. Denn ſie muͤſſen ein- raͤumen, daß Etrurien eine weit aͤltere Litteratur als Rom hatte, und daß die aͤlteſten roͤmiſchen Schrift- ſteller den juͤngſten etruſkiſchen in der Zeit nur gleich geſtanden haben koͤnnen.
Es hat ſich aber in der That eine Nachricht von dem erhalten was jene Hiſtorien uͤber einen bey den Roͤmern ſehr beſtimmt ausgebildeten Theil ſogar der ſpaͤteren koͤniglichen Geſchichte meldeten, welche zur Ent- ſcheidung genuͤgt; indem es darnach unwiderſprechlich iſt daß die etruſkiſchen Annalen uͤber die roͤmiſchen Koͤ- nige eine mit der unſrigen ſchlechterdings unvereinbare Geſchichte enthielten. Sie findet ſich in den Fragmen- ten der Rede des Kaiſers Claudius uͤber die Aufnahme vornehmer Gallier in den Senat, welche ſeit Lipſius nicht ſelten mit Tacitus Werken gedruckt ſind, aber wohl ſelten einen Leſer finden. Das ſollte nicht ſeyn, ſchon wegen ihrer litterariſchen und pſychologiſchen Merkwuͤr- digkeit, woruͤber zu reden hier freylich der Raum nicht erlaubt. Noch wichtiger aber iſt ihr hiſtoriſcher In- halt, und es iſt unmoͤglich nach ihnen den Verluſt der
Zweiter Theil. L l
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3.
Servius Tullius und Caͤles Vibenna.
Die glaͤubigſten Anhaͤnger der Meinung von einer
angeblichen eigentlichen Geſchichte der aͤlteſten Zeiten
Roms koͤnnten uns die Aufforderung nicht abſchlagen
etruſkiſchen Geſchichtsbuͤchern die Entſcheidung zu uͤberlaſ-
ſen, wenn ein wunderbarer Gluͤcksfall ſie uns in einer
verſtaͤndlichen Sprache verſchaffte. Denn ſie muͤſſen ein-
raͤumen, daß Etrurien eine weit aͤltere Litteratur als
Rom hatte, und daß die aͤlteſten roͤmiſchen Schrift-
ſteller den juͤngſten etruſkiſchen in der Zeit nur gleich
geſtanden haben koͤnnen.
Es hat ſich aber in der That eine Nachricht von
dem erhalten was jene Hiſtorien uͤber einen bey den
Roͤmern ſehr beſtimmt ausgebildeten Theil ſogar der
ſpaͤteren koͤniglichen Geſchichte meldeten, welche zur Ent-
ſcheidung genuͤgt; indem es darnach unwiderſprechlich
iſt daß die etruſkiſchen Annalen uͤber die roͤmiſchen Koͤ-
nige eine mit der unſrigen ſchlechterdings unvereinbare
Geſchichte enthielten. Sie findet ſich in den Fragmen-
ten der Rede des Kaiſers Claudius uͤber die Aufnahme
vornehmer Gallier in den Senat, welche ſeit Lipſius
nicht ſelten mit Tacitus Werken gedruckt ſind, aber wohl
ſelten einen Leſer finden. Das ſollte nicht ſeyn, ſchon
wegen ihrer litterariſchen und pſychologiſchen Merkwuͤr-
digkeit, woruͤber zu reden hier freylich der Raum nicht
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Niebuhr, Barthold Georg: Römische Geschichte. T. 2. Berlin, 1812, S. 529. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/niebuhr_roemische02_1812/545>, abgerufen am 28.03.2024.
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