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Niethammer, Friedrich Immanuel: Der Streit des Philanthropinismus und Humanismus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts unsrer Zeit. Jena, 1808.

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Anwendung der allgemeinen Grundsätze etc.
halbgefaßten Regel gar nicht mehr zu finden. Diese
Art von Geistesbildung also, die man dem weiblichen
Geschlecht auf gleiche Weise wie dem männlichen geben
will, befördert nicht nur nicht, sondern hindert viel-
mehr die wahre weibliche Bildung. Nicht Principien
sollen die Weiber studiren und in Anwendungen kunst-
gerecht zergliedern. Ihr Gefühl ist unmittelbar das
Princip und die Anwendung; und wir dürfen die
Frauen nur lehren, ihr Gemüth auszusprechen und
darzustellen, um zu hören oder zu sehen, was oft alle
kunstgerechte Schlußfolge und alle regelrechte Abmessung
der Männer nicht eben so vollendet zu Tag fördert.
Dieses Gefühl zur höchsten Lebendigkeit und Sicherheit
auszubilden, ist das Ideal und die Aufgabe des weib-
lichen Erziehungsunterrichts.

Weg also aus dem Erziehungsunterricht des Wei-
bes alles Studium von Wissenschaften, und alle Theo-
rie. Durch wissenschaftliche Zergliederung von Be-
griffen zur Wahrheit, durch Analysirung von Gesetzen
zur Tugend, durch Erlernung von theoretischen Regeln
zur Kunst, kann und soll das Weib nicht geführt
werden. Alles lernt sie in der unmittelbaren Anwen-
dung am leichtesten und sichersten; die höchsten Ideen
der Wissenschaft und Kunst faßt sie in den concreten
Darstellungen der redenden und bildenden Künste mit
Tiefe des Gemüths, während sie in dem Anschauen
und Nachahmen solcher Darstellungen die Tiefe des
Gemüthes selbst aufregt und belebt.


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Anwendung der allgemeinen Grundſaͤtze ꝛc.
halbgefaßten Regel gar nicht mehr zu finden. Dieſe
Art von Geiſtesbildung alſo, die man dem weiblichen
Geſchlecht auf gleiche Weiſe wie dem maͤnnlichen geben
will, befoͤrdert nicht nur nicht, ſondern hindert viel-
mehr die wahre weibliche Bildung. Nicht Principien
ſollen die Weiber ſtudiren und in Anwendungen kunſt-
gerecht zergliedern. Ihr Gefuͤhl iſt unmittelbar das
Princip und die Anwendung; und wir duͤrfen die
Frauen nur lehren, ihr Gemuͤth auszuſprechen und
darzuſtellen, um zu hoͤren oder zu ſehen, was oft alle
kunſtgerechte Schlußfolge und alle regelrechte Abmeſſung
der Maͤnner nicht eben ſo vollendet zu Tag foͤrdert.
Dieſes Gefuͤhl zur hoͤchſten Lebendigkeit und Sicherheit
auszubilden, iſt das Ideal und die Aufgabe des weib-
lichen Erziehungsunterrichts.

Weg alſo aus dem Erziehungsunterricht des Wei-
bes alles Studium von Wiſſenſchaften, und alle Theo-
rie. Durch wiſſenſchaftliche Zergliederung von Be-
griffen zur Wahrheit, durch Analyſirung von Geſetzen
zur Tugend, durch Erlernung von theoretiſchen Regeln
zur Kunſt, kann und ſoll das Weib nicht gefuͤhrt
werden. Alles lernt ſie in der unmittelbaren Anwen-
dung am leichteſten und ſicherſten; die hoͤchſten Ideen
der Wiſſenſchaft und Kunſt faßt ſie in den concreten
Darſtellungen der redenden und bildenden Kuͤnſte mit
Tiefe des Gemuͤths, waͤhrend ſie in dem Anſchauen
und Nachahmen ſolcher Darſtellungen die Tiefe des
Gemuͤthes ſelbſt aufregt und belebt.


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[353/0365] Anwendung der allgemeinen Grundſaͤtze ꝛc. halbgefaßten Regel gar nicht mehr zu finden. Dieſe Art von Geiſtesbildung alſo, die man dem weiblichen Geſchlecht auf gleiche Weiſe wie dem maͤnnlichen geben will, befoͤrdert nicht nur nicht, ſondern hindert viel- mehr die wahre weibliche Bildung. Nicht Principien ſollen die Weiber ſtudiren und in Anwendungen kunſt- gerecht zergliedern. Ihr Gefuͤhl iſt unmittelbar das Princip und die Anwendung; und wir duͤrfen die Frauen nur lehren, ihr Gemuͤth auszuſprechen und darzuſtellen, um zu hoͤren oder zu ſehen, was oft alle kunſtgerechte Schlußfolge und alle regelrechte Abmeſſung der Maͤnner nicht eben ſo vollendet zu Tag foͤrdert. Dieſes Gefuͤhl zur hoͤchſten Lebendigkeit und Sicherheit auszubilden, iſt das Ideal und die Aufgabe des weib- lichen Erziehungsunterrichts. Weg alſo aus dem Erziehungsunterricht des Wei- bes alles Studium von Wiſſenſchaften, und alle Theo- rie. Durch wiſſenſchaftliche Zergliederung von Be- griffen zur Wahrheit, durch Analyſirung von Geſetzen zur Tugend, durch Erlernung von theoretiſchen Regeln zur Kunſt, kann und ſoll das Weib nicht gefuͤhrt werden. Alles lernt ſie in der unmittelbaren Anwen- dung am leichteſten und ſicherſten; die hoͤchſten Ideen der Wiſſenſchaft und Kunſt faßt ſie in den concreten Darſtellungen der redenden und bildenden Kuͤnſte mit Tiefe des Gemuͤths, waͤhrend ſie in dem Anſchauen und Nachahmen ſolcher Darſtellungen die Tiefe des Gemuͤthes ſelbſt aufregt und belebt. 23

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Zitationshilfe: Niethammer, Friedrich Immanuel: Der Streit des Philanthropinismus und Humanismus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts unsrer Zeit. Jena, 1808, S. 353. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/niethammer_philantropinismus_1808/365>, abgerufen am 28.03.2024.