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Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872.

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dem Leben inhärirende Leiden, der Schmerz wird in einem
gewissen Sinne aus den Zügen der Natur hinweggelogen. In
der dionysischen Kunst und in deren tragischer Symbolik
redet uns dieselbe Natur mit ihrer wahren, unverstellten
Stimme an: "Seid wie ich bin! Unter dem unaufhörlichen
Wechsel der Erscheinungen die ewig schöpferische, ewig zum
Dasein zwingende, an diesem Erscheinungswechsel sich ewig
befriedigende Urmutter!"

17.

Auch die dionysische Kunst will uns von der ewigen
Lust des Daseins überzeugen: nur sollen wir diese Lust nicht
in den Erscheinungen, sondern hinter den Erscheinungen
suchen. Wir sollen erkennen, wie alles, was entsteht, zum
leidvollen Untergange bereit sein muss, wir werden gezwungen
in die Schrecken der Individualexistenz hineinzublicken --
und sollen doch nicht erstarren: ein metaphysischer Trost
reisst uns momentan aus dem Getriebe der Wandelgestalten
heraus. Wir sind wirklich in kurzen Augenblicken das Ur¬
wesen selbst und fühlen dessen unbändige Daseinsgier und
Daseinslust; der Kampf, die Qual, die Vernichtung der Er¬
scheinungen dünkt uns jetzt wie nothwendig, bei dem Ueber¬
maass von unzähligen, sich in's Leben drängenden und stossen¬
den Daseinsformen, bei der überschwänglichen Fruchtbarkeit
des Weltwillens; wir werden von dem wüthenden Stachel
dieser Qualen in demselben Augenblicke durchbohrt, wo wir
gleichsam mit der unermesslichen Urlust am Dasein eins ge¬
worden sind und wo wir die Unzerstörbarkeit und Ewigkeit
dieser Lust in dionysischer Entzückung ahnen. Trotz Furcht
und Mitleid sind wir die glücklich-Lebendigen, nicht als In¬
dividuen, sondern als das eine Lebendige, mit dessen Zeugungs¬
lust wir verschmolzen sind.

dem Leben inhärirende Leiden, der Schmerz wird in einem
gewissen Sinne aus den Zügen der Natur hinweggelogen. In
der dionysischen Kunst und in deren tragischer Symbolik
redet uns dieselbe Natur mit ihrer wahren, unverstellten
Stimme an: »Seid wie ich bin! Unter dem unaufhörlichen
Wechsel der Erscheinungen die ewig schöpferische, ewig zum
Dasein zwingende, an diesem Erscheinungswechsel sich ewig
befriedigende Urmutter!«

17.

Auch die dionysische Kunst will uns von der ewigen
Lust des Daseins überzeugen: nur sollen wir diese Lust nicht
in den Erscheinungen, sondern hinter den Erscheinungen
suchen. Wir sollen erkennen, wie alles, was entsteht, zum
leidvollen Untergange bereit sein muss, wir werden gezwungen
in die Schrecken der Individualexistenz hineinzublicken —
und sollen doch nicht erstarren: ein metaphysischer Trost
reisst uns momentan aus dem Getriebe der Wandelgestalten
heraus. Wir sind wirklich in kurzen Augenblicken das Ur¬
wesen selbst und fühlen dessen unbändige Daseinsgier und
Daseinslust; der Kampf, die Qual, die Vernichtung der Er¬
scheinungen dünkt uns jetzt wie nothwendig, bei dem Ueber¬
maass von unzähligen, sich in's Leben drängenden und stossen¬
den Daseinsformen, bei der überschwänglichen Fruchtbarkeit
des Weltwillens; wir werden von dem wüthenden Stachel
dieser Qualen in demselben Augenblicke durchbohrt, wo wir
gleichsam mit der unermesslichen Urlust am Dasein eins ge¬
worden sind und wo wir die Unzerstörbarkeit und Ewigkeit
dieser Lust in dionysischer Entzückung ahnen. Trotz Furcht
und Mitleid sind wir die glücklich-Lebendigen, nicht als In¬
dividuen, sondern als das eine Lebendige, mit dessen Zeugungs¬
lust wir verschmolzen sind.

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[—92—/0105] dem Leben inhärirende Leiden, der Schmerz wird in einem gewissen Sinne aus den Zügen der Natur hinweggelogen. In der dionysischen Kunst und in deren tragischer Symbolik redet uns dieselbe Natur mit ihrer wahren, unverstellten Stimme an: »Seid wie ich bin! Unter dem unaufhörlichen Wechsel der Erscheinungen die ewig schöpferische, ewig zum Dasein zwingende, an diesem Erscheinungswechsel sich ewig befriedigende Urmutter!« 17. Auch die dionysische Kunst will uns von der ewigen Lust des Daseins überzeugen: nur sollen wir diese Lust nicht in den Erscheinungen, sondern hinter den Erscheinungen suchen. Wir sollen erkennen, wie alles, was entsteht, zum leidvollen Untergange bereit sein muss, wir werden gezwungen in die Schrecken der Individualexistenz hineinzublicken — und sollen doch nicht erstarren: ein metaphysischer Trost reisst uns momentan aus dem Getriebe der Wandelgestalten heraus. Wir sind wirklich in kurzen Augenblicken das Ur¬ wesen selbst und fühlen dessen unbändige Daseinsgier und Daseinslust; der Kampf, die Qual, die Vernichtung der Er¬ scheinungen dünkt uns jetzt wie nothwendig, bei dem Ueber¬ maass von unzähligen, sich in's Leben drängenden und stossen¬ den Daseinsformen, bei der überschwänglichen Fruchtbarkeit des Weltwillens; wir werden von dem wüthenden Stachel dieser Qualen in demselben Augenblicke durchbohrt, wo wir gleichsam mit der unermesslichen Urlust am Dasein eins ge¬ worden sind und wo wir die Unzerstörbarkeit und Ewigkeit dieser Lust in dionysischer Entzückung ahnen. Trotz Furcht und Mitleid sind wir die glücklich-Lebendigen, nicht als In¬ dividuen, sondern als das eine Lebendige, mit dessen Zeugungs¬ lust wir verschmolzen sind.

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Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872, S. —92—. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/105>, abgerufen am 19.04.2024.