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Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872.

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Um also die dionysische Befähigung eines Volkes richtig
abzuschätzen, dürften wir nicht nur an die Musik des Volkes,
sondern eben so nothwendig an den tragischen Mythus dieses
Volkes als den zweiten Zeugen jener Befähigung zu denken
haben. Es ist nun, bei dieser engsten Verwandtschaft zwischen
Musik und Mythus, in gleicher Weise zu vermuthen, dass mit
einer Entartung und Depravation des Einen eine Verkümmer¬
ung der Anderen verbunden sein wird: wenn anders in der
Schwächung des Mythus überhaupt eine Abschwächung des
dionysischen Vermögens zum Ausdruck kommt. Ueber Beides
dürfte uns aber ein Blick auf die Entwicklung des deutschen
Wesens nicht in Zweifel lassen: in der Oper wie in dem ab¬
stracten Charakter unseres mythenlosen Daseins, in einer zur
Ergetzlichkeit herabgesunkenen Kunst, wie in einem vom
Begriff geleiteten Leben, hatte sich uns jene gleich un¬
künstlerische, als am Leben zehrende Natur des sokratischen
Optimismus enthüllt. Zu unserem Troste aber gab es An¬
zeichen dafür, dass trotzdem der deutsche Geist in herrlicher
Gesundheit, Tiefe und dionysischer Kraft unzerstört, gleich
einem zum Schlummer niedergesunknen Ritter, in einem un¬
zugänglichen Abgrunde ruhe und träume: aus welchem Ab¬
grunde zu uns das dionysische Lied emporsteigt, um uns zu
verstehen zu geben, dass dieser deutsche Ritter auch jetzt
noch seinen uralten dionysischen Mythus in selig-ernsten
Visionen träumt. Glaube Niemand, dass der deutsche Geist
seine mythische Heimat auf ewig verloren habe, wenn er so
deutlich noch die Vogelstimmen versteht, die von jener Hei¬
mat erzählen. Eines Tages wird er sich wach finden, in
aller Morgenfrische eines ungeheuren Schlafes: dann wird er
Drachen tödten, die tückischen Zwerge vernichten und Brünn¬
hilde erwecken -- und Wotan's Speer selbst wird seinen Weg
nicht hemmen können !

Meine Freunde, ihr, die ihr an die dionysische Musik

Um also die dionysische Befähigung eines Volkes richtig
abzuschätzen, dürften wir nicht nur an die Musik des Volkes,
sondern eben so nothwendig an den tragischen Mythus dieses
Volkes als den zweiten Zeugen jener Befähigung zu denken
haben. Es ist nun, bei dieser engsten Verwandtschaft zwischen
Musik und Mythus, in gleicher Weise zu vermuthen, dass mit
einer Entartung und Depravation des Einen eine Verkümmer¬
ung der Anderen verbunden sein wird: wenn anders in der
Schwächung des Mythus überhaupt eine Abschwächung des
dionysischen Vermögens zum Ausdruck kommt. Ueber Beides
dürfte uns aber ein Blick auf die Entwicklung des deutschen
Wesens nicht in Zweifel lassen: in der Oper wie in dem ab¬
stracten Charakter unseres mythenlosen Daseins, in einer zur
Ergetzlichkeit herabgesunkenen Kunst, wie in einem vom
Begriff geleiteten Leben, hatte sich uns jene gleich un¬
künstlerische, als am Leben zehrende Natur des sokratischen
Optimismus enthüllt. Zu unserem Troste aber gab es An¬
zeichen dafür, dass trotzdem der deutsche Geist in herrlicher
Gesundheit, Tiefe und dionysischer Kraft unzerstört, gleich
einem zum Schlummer niedergesunknen Ritter, in einem un¬
zugänglichen Abgrunde ruhe und träume: aus welchem Ab¬
grunde zu uns das dionysische Lied emporsteigt, um uns zu
verstehen zu geben, dass dieser deutsche Ritter auch jetzt
noch seinen uralten dionysischen Mythus in selig-ernsten
Visionen träumt. Glaube Niemand, dass der deutsche Geist
seine mythische Heimat auf ewig verloren habe, wenn er so
deutlich noch die Vogelstimmen versteht, die von jener Hei¬
mat erzählen. Eines Tages wird er sich wach finden, in
aller Morgenfrische eines ungeheuren Schlafes: dann wird er
Drachen tödten, die tückischen Zwerge vernichten und Brünn¬
hilde erwecken — und Wotan's Speer selbst wird seinen Weg
nicht hemmen können !

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[—141—/0154] Um also die dionysische Befähigung eines Volkes richtig abzuschätzen, dürften wir nicht nur an die Musik des Volkes, sondern eben so nothwendig an den tragischen Mythus dieses Volkes als den zweiten Zeugen jener Befähigung zu denken haben. Es ist nun, bei dieser engsten Verwandtschaft zwischen Musik und Mythus, in gleicher Weise zu vermuthen, dass mit einer Entartung und Depravation des Einen eine Verkümmer¬ ung der Anderen verbunden sein wird: wenn anders in der Schwächung des Mythus überhaupt eine Abschwächung des dionysischen Vermögens zum Ausdruck kommt. Ueber Beides dürfte uns aber ein Blick auf die Entwicklung des deutschen Wesens nicht in Zweifel lassen: in der Oper wie in dem ab¬ stracten Charakter unseres mythenlosen Daseins, in einer zur Ergetzlichkeit herabgesunkenen Kunst, wie in einem vom Begriff geleiteten Leben, hatte sich uns jene gleich un¬ künstlerische, als am Leben zehrende Natur des sokratischen Optimismus enthüllt. Zu unserem Troste aber gab es An¬ zeichen dafür, dass trotzdem der deutsche Geist in herrlicher Gesundheit, Tiefe und dionysischer Kraft unzerstört, gleich einem zum Schlummer niedergesunknen Ritter, in einem un¬ zugänglichen Abgrunde ruhe und träume: aus welchem Ab¬ grunde zu uns das dionysische Lied emporsteigt, um uns zu verstehen zu geben, dass dieser deutsche Ritter auch jetzt noch seinen uralten dionysischen Mythus in selig-ernsten Visionen träumt. Glaube Niemand, dass der deutsche Geist seine mythische Heimat auf ewig verloren habe, wenn er so deutlich noch die Vogelstimmen versteht, die von jener Hei¬ mat erzählen. Eines Tages wird er sich wach finden, in aller Morgenfrische eines ungeheuren Schlafes: dann wird er Drachen tödten, die tückischen Zwerge vernichten und Brünn¬ hilde erwecken — und Wotan's Speer selbst wird seinen Weg nicht hemmen können ! Meine Freunde, ihr, die ihr an die dionysische Musik

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Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872, S. —141—. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/154>, abgerufen am 20.04.2024.