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Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872.

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nichtung des Schleiers der Maja, das Einssein als Genius der
Gattung, ja der Natur. Jetzt soll sich das Wesen der Natur
symbolisch ausdrücken; eine neue Welt der Symbole ist
nöthig, einmal die ganze leibliche Symbolik, nicht nur die
Symbolik des Mundes, des Gesichts, des Wortes, sondern
die volle, alle Glieder rhythmisch bewegende Tanzgebärde.
Sodann wachsen die anderen symbolischen Kräfte, die der
Musik, in Rhythmik, Dynamik und Harmonie, plötzlich unge¬
stüm. Um diese Gesammtentfesselung aller symbolischen
Kräfte zu fassen, muss der Mensch bereits auf jener Höhe
der Selbstentäusserung angelangt sein, die in jenen Kräften
sich symbolisch aussprechen will: der dithyrambische Diony¬
susdiener wird somit nur von Seinesgleichen verstanden!
Mit welchem Erstaunen musste der apollinische Grieche auf
ihn blicken! Mit einem Erstaunen, das um so grösser war,
als sich ihm das Grausen beimischte, dass ihm jenes Alles
doch eigentlich so fremd nicht sei, ja dass sein apollinisches
Bewusstsein nur wie ein Schleier diese dionysische Welt vor
ihm verdecke.

3.

Um dies zu begreifen, müssen wir jenes kunstvolle Ge¬
bäude der apollinischen Cultur gleichsam Stein um Stein
abtragen, bis wir die Fundamente erblicken, auf die es be¬
gründet ist. Hier gewahren wir nun zuerst die herrlichen
olympischen Göttergestalten, die auf Dach und Giebel dieses
Gebäudes stehen, und deren Thaten in weithin leuchtenden
Reliefs dargestellt Fries und Wände desselben zieren. Wenn
unter ihnen auch Apollo steht, als eine einzelne Gottheit
neben anderen und ohne den Anspruch einer ersten Stellung,
so dürfen wir uns dadurch nicht beirren lassen. Derselbe
Trieb, der sich in Apollo versinnlichte, hat überhaupt jene

nichtung des Schleiers der Maja, das Einssein als Genius der
Gattung, ja der Natur. Jetzt soll sich das Wesen der Natur
symbolisch ausdrücken; eine neue Welt der Symbole ist
nöthig, einmal die ganze leibliche Symbolik, nicht nur die
Symbolik des Mundes, des Gesichts, des Wortes, sondern
die volle, alle Glieder rhythmisch bewegende Tanzgebärde.
Sodann wachsen die anderen symbolischen Kräfte, die der
Musik, in Rhythmik, Dynamik und Harmonie, plötzlich unge¬
stüm. Um diese Gesammtentfesselung aller symbolischen
Kräfte zu fassen, muss der Mensch bereits auf jener Höhe
der Selbstentäusserung angelangt sein, die in jenen Kräften
sich symbolisch aussprechen will: der dithyrambische Diony¬
susdiener wird somit nur von Seinesgleichen verstanden!
Mit welchem Erstaunen musste der apollinische Grieche auf
ihn blicken! Mit einem Erstaunen, das um so grösser war,
als sich ihm das Grausen beimischte, dass ihm jenes Alles
doch eigentlich so fremd nicht sei, ja dass sein apollinisches
Bewusstsein nur wie ein Schleier diese dionysische Welt vor
ihm verdecke.

3.

Um dies zu begreifen, müssen wir jenes kunstvolle Ge¬
bäude der apollinischen Cultur gleichsam Stein um Stein
abtragen, bis wir die Fundamente erblicken, auf die es be¬
gründet ist. Hier gewahren wir nun zuerst die herrlichen
olympischen Göttergestalten, die auf Dach und Giebel dieses
Gebäudes stehen, und deren Thaten in weithin leuchtenden
Reliefs dargestellt Fries und Wände desselben zieren. Wenn
unter ihnen auch Apollo steht, als eine einzelne Gottheit
neben anderen und ohne den Anspruch einer ersten Stellung,
so dürfen wir uns dadurch nicht beirren lassen. Derselbe
Trieb, der sich in Apollo versinnlichte, hat überhaupt jene

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[—10—/0023] nichtung des Schleiers der Maja, das Einssein als Genius der Gattung, ja der Natur. Jetzt soll sich das Wesen der Natur symbolisch ausdrücken; eine neue Welt der Symbole ist nöthig, einmal die ganze leibliche Symbolik, nicht nur die Symbolik des Mundes, des Gesichts, des Wortes, sondern die volle, alle Glieder rhythmisch bewegende Tanzgebärde. Sodann wachsen die anderen symbolischen Kräfte, die der Musik, in Rhythmik, Dynamik und Harmonie, plötzlich unge¬ stüm. Um diese Gesammtentfesselung aller symbolischen Kräfte zu fassen, muss der Mensch bereits auf jener Höhe der Selbstentäusserung angelangt sein, die in jenen Kräften sich symbolisch aussprechen will: der dithyrambische Diony¬ susdiener wird somit nur von Seinesgleichen verstanden! Mit welchem Erstaunen musste der apollinische Grieche auf ihn blicken! Mit einem Erstaunen, das um so grösser war, als sich ihm das Grausen beimischte, dass ihm jenes Alles doch eigentlich so fremd nicht sei, ja dass sein apollinisches Bewusstsein nur wie ein Schleier diese dionysische Welt vor ihm verdecke. 3. Um dies zu begreifen, müssen wir jenes kunstvolle Ge¬ bäude der apollinischen Cultur gleichsam Stein um Stein abtragen, bis wir die Fundamente erblicken, auf die es be¬ gründet ist. Hier gewahren wir nun zuerst die herrlichen olympischen Göttergestalten, die auf Dach und Giebel dieses Gebäudes stehen, und deren Thaten in weithin leuchtenden Reliefs dargestellt Fries und Wände desselben zieren. Wenn unter ihnen auch Apollo steht, als eine einzelne Gottheit neben anderen und ohne den Anspruch einer ersten Stellung, so dürfen wir uns dadurch nicht beirren lassen. Derselbe Trieb, der sich in Apollo versinnlichte, hat überhaupt jene

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Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872, S. —10—. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/23>, abgerufen am 28.03.2024.