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Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872.

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ich will ihn weiter träumen", wenn wir hieraus auf eine tiefe
innere Lust des Traumanschauens zu schliessen haben, wenn
wir andererseits, um überhaupt mit dieser inneren Lust am
Schauen träumen zu können, den Tag und seine schreckliche
Zudringlichkeit völlig vergessen haben müssen: so dürfen wir
uns alle diese Erscheinungen etwa in folgender Weise unter
der Leitung des traumdeutenden Apollo, interpretiren. So
gewiss von den beiden Hälften des Lebens, der wachen
und der träumenden Hälfte, uns die erstere als die ungleich
bevorzugtere, wichtigere, würdigere, lebenswerthere, ja allein
gelebte dünkt: so möchte ich doch, bei allem Anscheine
einer Paradoxie, für jenen geheimnissvollen Grund unsers
Wesens, dessen Erscheinung wir sind, gerade die entgegen¬
gesetzte Werthschätzung des Traumes behaupten. Je mehr
ich nämlich in der Natur jene allgewaltigen Kunsttriebe und
in ihnen eine inbrünstige Sehnsucht zum Schein, zum Erlöst¬
werden durch den Schein gewahr werde, um so mehr fühle
ich mich zu der metaphysischen Annahme gedrängt, dass
das Wahrhaft-Seiende und Ur-Eine, als das ewig Leidende
und Widerspruchsvolle, zugleich die entzückende Vision, den
lustvollen Schein, zu seiner steten Erlösung braucht: wel¬
chen Schein wir, völlig in ihm befangen und aus ihm be¬
stehend, als das Wahrhaft-Nichtseiende d. h. als ein fort¬
währendes Werden in Zeit, Raum und Causalität, mit anderen
Worten, als empirische Realität zu empfinden genöthigt sind.
Sehen wir also einmal von unsrer eignen "Realität" für einen
Augenblick ab, fassen wir unser empirisches Dasein, wie
das der Welt überhaupt, als eine in jedem Moment erzeugte
Vorstellung des Ur-Einen, so muss uns jetzt der Traum als
der Schein des Scheins, somit als eine noch höhere Befrie¬
digung der Urbegierde nach dem Schein hin gelten. Aus
diesem selben Grunde hat der innerste Kern der Natur jene
unbeschreibliche Lust an dem naiven Künstler und dem

ich will ihn weiter träumen«, wenn wir hieraus auf eine tiefe
innere Lust des Traumanschauens zu schliessen haben, wenn
wir andererseits, um überhaupt mit dieser inneren Lust am
Schauen träumen zu können, den Tag und seine schreckliche
Zudringlichkeit völlig vergessen haben müssen: so dürfen wir
uns alle diese Erscheinungen etwa in folgender Weise unter
der Leitung des traumdeutenden Apollo, interpretiren. So
gewiss von den beiden Hälften des Lebens, der wachen
und der träumenden Hälfte, uns die erstere als die ungleich
bevorzugtere, wichtigere, würdigere, lebenswerthere, ja allein
gelebte dünkt: so möchte ich doch, bei allem Anscheine
einer Paradoxie, für jenen geheimnissvollen Grund unsers
Wesens, dessen Erscheinung wir sind, gerade die entgegen¬
gesetzte Werthschätzung des Traumes behaupten. Je mehr
ich nämlich in der Natur jene allgewaltigen Kunsttriebe und
in ihnen eine inbrünstige Sehnsucht zum Schein, zum Erlöst¬
werden durch den Schein gewahr werde, um so mehr fühle
ich mich zu der metaphysischen Annahme gedrängt, dass
das Wahrhaft-Seiende und Ur-Eine, als das ewig Leidende
und Widerspruchsvolle, zugleich die entzückende Vision, den
lustvollen Schein, zu seiner steten Erlösung braucht: wel¬
chen Schein wir, völlig in ihm befangen und aus ihm be¬
stehend, als das Wahrhaft-Nichtseiende d. h. als ein fort¬
währendes Werden in Zeit, Raum und Causalität, mit anderen
Worten, als empirische Realität zu empfinden genöthigt sind.
Sehen wir also einmal von unsrer eignen »Realität« für einen
Augenblick ab, fassen wir unser empirisches Dasein, wie
das der Welt überhaupt, als eine in jedem Moment erzeugte
Vorstellung des Ur-Einen, so muss uns jetzt der Traum als
der Schein des Scheins, somit als eine noch höhere Befrie¬
digung der Urbegierde nach dem Schein hin gelten. Aus
diesem selben Grunde hat der innerste Kern der Natur jene
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[—15—/0028] ich will ihn weiter träumen«, wenn wir hieraus auf eine tiefe innere Lust des Traumanschauens zu schliessen haben, wenn wir andererseits, um überhaupt mit dieser inneren Lust am Schauen träumen zu können, den Tag und seine schreckliche Zudringlichkeit völlig vergessen haben müssen: so dürfen wir uns alle diese Erscheinungen etwa in folgender Weise unter der Leitung des traumdeutenden Apollo, interpretiren. So gewiss von den beiden Hälften des Lebens, der wachen und der träumenden Hälfte, uns die erstere als die ungleich bevorzugtere, wichtigere, würdigere, lebenswerthere, ja allein gelebte dünkt: so möchte ich doch, bei allem Anscheine einer Paradoxie, für jenen geheimnissvollen Grund unsers Wesens, dessen Erscheinung wir sind, gerade die entgegen¬ gesetzte Werthschätzung des Traumes behaupten. Je mehr ich nämlich in der Natur jene allgewaltigen Kunsttriebe und in ihnen eine inbrünstige Sehnsucht zum Schein, zum Erlöst¬ werden durch den Schein gewahr werde, um so mehr fühle ich mich zu der metaphysischen Annahme gedrängt, dass das Wahrhaft-Seiende und Ur-Eine, als das ewig Leidende und Widerspruchsvolle, zugleich die entzückende Vision, den lustvollen Schein, zu seiner steten Erlösung braucht: wel¬ chen Schein wir, völlig in ihm befangen und aus ihm be¬ stehend, als das Wahrhaft-Nichtseiende d. h. als ein fort¬ währendes Werden in Zeit, Raum und Causalität, mit anderen Worten, als empirische Realität zu empfinden genöthigt sind. Sehen wir also einmal von unsrer eignen »Realität« für einen Augenblick ab, fassen wir unser empirisches Dasein, wie das der Welt überhaupt, als eine in jedem Moment erzeugte Vorstellung des Ur-Einen, so muss uns jetzt der Traum als der Schein des Scheins, somit als eine noch höhere Befrie¬ digung der Urbegierde nach dem Schein hin gelten. Aus diesem selben Grunde hat der innerste Kern der Natur jene unbeschreibliche Lust an dem naiven Künstler und dem

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Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872, S. —15—. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/28>, abgerufen am 28.03.2024.