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Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872.

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wart" nennt, in Fetzen zu reissen? -- Besorgt, doch nicht
trostlos stehen wir eine kleine Weile bei Seite, als die Be¬
schaulichen, denen es erlaubt ist, Zeugen jener ungeheuren
Kämpfe und Uebergänge zu sein. Ach! Es ist der Zauber
dieser Kämpfe, dass, wer sie schaut, sie auch kämpfen
muss!

16.

An diesem ausgeführten historischen Beispiel haben wir
klar zu machen gesucht, wie die Tragödie an dem Ent¬
schwinden des Geistes der Musik eben so gewiss zu Grunde
geht, wie sie aus diesem Geiste allein geboren werden kann.
Das Ungewöhnliche dieser Behauptung zu mildern und anderer¬
seits den Ursprung dieser unserer Erkenntniss aufzuzeigen,
müssen wir uns jetzt freien Blicks den analogen Erscheinungen
der Gegenwart gegenüber stellen; wir müssen mitten hinein
in jene Kämpfe treten, welche, wie ich eben sagte, zwischen
der unersättlichen optimistischen Erkenntniss und der tra¬
gischen Kunstbedürftigkeit in den höchsten Sphären unserer
jetzigen Welt gekämpft werden. Ich will hierbei von allen
den anderen gegnerischen Trieben absehn, die zu jeder
Zeit der Kunst und gerade der Tragödie entgegenarbeiten
und die auch in der Gegenwart in dem Maasse siegesgewiss
um sich greifen, dass von den theatralischen Künsten z. B.
allein die Posse und das Ballet in einem einigermaassen
üppigen Wuchern ihre vielleicht nicht für Jedermann wohl¬
riechenden Blüthen treiben. Ich will nur von der erlauchtesten
Gegnerschaft
der tragischen Weltbetrachtung reden und meine
damit die in ihrem tiefsten Wesen optimistische Wissenschaft,
mit ihrem Ahnherrn Sokrates an der Spitze. Alsbald sollen
auch die Mächte bei Namen genannt werden, welche mir
eine Wiedergeburt der Tragödie -- und welche andere

wart« nennt, in Fetzen zu reissen? — Besorgt, doch nicht
trostlos stehen wir eine kleine Weile bei Seite, als die Be¬
schaulichen, denen es erlaubt ist, Zeugen jener ungeheuren
Kämpfe und Uebergänge zu sein. Ach! Es ist der Zauber
dieser Kämpfe, dass, wer sie schaut, sie auch kämpfen
muss!

16.

An diesem ausgeführten historischen Beispiel haben wir
klar zu machen gesucht, wie die Tragödie an dem Ent¬
schwinden des Geistes der Musik eben so gewiss zu Grunde
geht, wie sie aus diesem Geiste allein geboren werden kann.
Das Ungewöhnliche dieser Behauptung zu mildern und anderer¬
seits den Ursprung dieser unserer Erkenntniss aufzuzeigen,
müssen wir uns jetzt freien Blicks den analogen Erscheinungen
der Gegenwart gegenüber stellen; wir müssen mitten hinein
in jene Kämpfe treten, welche, wie ich eben sagte, zwischen
der unersättlichen optimistischen Erkenntniss und der tra¬
gischen Kunstbedürftigkeit in den höchsten Sphären unserer
jetzigen Welt gekämpft werden. Ich will hierbei von allen
den anderen gegnerischen Trieben absehn, die zu jeder
Zeit der Kunst und gerade der Tragödie entgegenarbeiten
und die auch in der Gegenwart in dem Maasse siegesgewiss
um sich greifen, dass von den theatralischen Künsten z. B.
allein die Posse und das Ballet in einem einigermaassen
üppigen Wuchern ihre vielleicht nicht für Jedermann wohl¬
riechenden Blüthen treiben. Ich will nur von der erlauchtesten
Gegnerschaft
der tragischen Weltbetrachtung reden und meine
damit die in ihrem tiefsten Wesen optimistische Wissenschaft,
mit ihrem Ahnherrn Sokrates an der Spitze. Alsbald sollen
auch die Mächte bei Namen genannt werden, welche mir
eine Wiedergeburt der Tragödie — und welche andere

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[—85—/0098] wart« nennt, in Fetzen zu reissen? — Besorgt, doch nicht trostlos stehen wir eine kleine Weile bei Seite, als die Be¬ schaulichen, denen es erlaubt ist, Zeugen jener ungeheuren Kämpfe und Uebergänge zu sein. Ach! Es ist der Zauber dieser Kämpfe, dass, wer sie schaut, sie auch kämpfen muss! 16. An diesem ausgeführten historischen Beispiel haben wir klar zu machen gesucht, wie die Tragödie an dem Ent¬ schwinden des Geistes der Musik eben so gewiss zu Grunde geht, wie sie aus diesem Geiste allein geboren werden kann. Das Ungewöhnliche dieser Behauptung zu mildern und anderer¬ seits den Ursprung dieser unserer Erkenntniss aufzuzeigen, müssen wir uns jetzt freien Blicks den analogen Erscheinungen der Gegenwart gegenüber stellen; wir müssen mitten hinein in jene Kämpfe treten, welche, wie ich eben sagte, zwischen der unersättlichen optimistischen Erkenntniss und der tra¬ gischen Kunstbedürftigkeit in den höchsten Sphären unserer jetzigen Welt gekämpft werden. Ich will hierbei von allen den anderen gegnerischen Trieben absehn, die zu jeder Zeit der Kunst und gerade der Tragödie entgegenarbeiten und die auch in der Gegenwart in dem Maasse siegesgewiss um sich greifen, dass von den theatralischen Künsten z. B. allein die Posse und das Ballet in einem einigermaassen üppigen Wuchern ihre vielleicht nicht für Jedermann wohl¬ riechenden Blüthen treiben. Ich will nur von der erlauchtesten Gegnerschaft der tragischen Weltbetrachtung reden und meine damit die in ihrem tiefsten Wesen optimistische Wissenschaft, mit ihrem Ahnherrn Sokrates an der Spitze. Alsbald sollen auch die Mächte bei Namen genannt werden, welche mir eine Wiedergeburt der Tragödie — und welche andere

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Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872, S. —85—. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/98>, abgerufen am 29.03.2024.