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Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. Bd. 2. Chemnitz, 1883.

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Das Kind mit dem Spiegel.


Hierauf gieng Zarathustra wieder zurück in das
Gebirge und in die Einsamkeit seiner Höhle und ent¬
zog sich den Menschen: wartend gleich einem Säe¬
mann, der seinen Samen ausgeworfen hat. Seine
Seele aber wurde voll von Ungeduld und Begierde
nach Denen, welche er liebte: denn er hatte ihnen
noch Viel zu geben. Diess nämlich ist das Schwerste,
aus Liebe die offne Hand schliessen und als Schen¬
kender die Scham bewahren.

Also vergiengen dem Einsamen Monde und Jahre;
seine Weisheit aber wuchs und machte ihm Schmerzen
durch ihre Fülle.

Eines Morgens aber wachte er schon vor der
Morgenröthe auf, besann sich lange auf seinem Lager
und sprach endlich zu seinem Herzen:

"Was erschrak ich doch so in meinem Traume,
dass ich aufwachte? Trat nicht ein Kind zu mir, das
einen Spiegel trug?

"Oh Zarathustra -- sprach das Kind zu mir --
schaue Dich an im Spiegel!"

Aber als ich in den Spiegel schaute, da schrie
ich auf, und mein Herz war erschüttert: denn nicht

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Das Kind mit dem Spiegel.


Hierauf gieng Zarathustra wieder zurück in das
Gebirge und in die Einsamkeit seiner Höhle und ent¬
zog sich den Menschen: wartend gleich einem Säe¬
mann, der seinen Samen ausgeworfen hat. Seine
Seele aber wurde voll von Ungeduld und Begierde
nach Denen, welche er liebte: denn er hatte ihnen
noch Viel zu geben. Diess nämlich ist das Schwerste,
aus Liebe die offne Hand schliessen und als Schen¬
kender die Scham bewahren.

Also vergiengen dem Einsamen Monde und Jahre;
seine Weisheit aber wuchs und machte ihm Schmerzen
durch ihre Fülle.

Eines Morgens aber wachte er schon vor der
Morgenröthe auf, besann sich lange auf seinem Lager
und sprach endlich zu seinem Herzen:

„Was erschrak ich doch so in meinem Traume,
dass ich aufwachte? Trat nicht ein Kind zu mir, das
einen Spiegel trug?

„Oh Zarathustra — sprach das Kind zu mir —
schaue Dich an im Spiegel!“

Aber als ich in den Spiegel schaute, da schrie
ich auf, und mein Herz war erschüttert: denn nicht

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[1/0011] Das Kind mit dem Spiegel. Hierauf gieng Zarathustra wieder zurück in das Gebirge und in die Einsamkeit seiner Höhle und ent¬ zog sich den Menschen: wartend gleich einem Säe¬ mann, der seinen Samen ausgeworfen hat. Seine Seele aber wurde voll von Ungeduld und Begierde nach Denen, welche er liebte: denn er hatte ihnen noch Viel zu geben. Diess nämlich ist das Schwerste, aus Liebe die offne Hand schliessen und als Schen¬ kender die Scham bewahren. Also vergiengen dem Einsamen Monde und Jahre; seine Weisheit aber wuchs und machte ihm Schmerzen durch ihre Fülle. Eines Morgens aber wachte er schon vor der Morgenröthe auf, besann sich lange auf seinem Lager und sprach endlich zu seinem Herzen: „Was erschrak ich doch so in meinem Traume, dass ich aufwachte? Trat nicht ein Kind zu mir, das einen Spiegel trug? „Oh Zarathustra — sprach das Kind zu mir — schaue Dich an im Spiegel!“ Aber als ich in den Spiegel schaute, da schrie ich auf, und mein Herz war erschüttert: denn nicht 1

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Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. Bd. 2. Chemnitz, 1883, S. 1. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_zarathustra02_1883/11>, abgerufen am 28.03.2024.