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Social-politische Blätter. 1. Lieferung. Berlin, 7. Februar 1874.

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ständlichkeit, daß wir eine ganz andere politische und sociale Ent-
wickelung gehabt, als die bösen Franzosen, die sich in Klassen-
kämpfen aufgerieben hätten, während bei uns alle Klassen noch
heute in der lieblichsten Einmüthigkeit -- zwar nicht handeln,
aber petitioniren, demonstriren und -- gemeinsame Ohrfeigen
und Fußtritte von oben empfangen. -- Allerdings, meine Herren,
diese Einmüthigkeit im passiven Widerstand unter allen Klassen
der Gesellschaft hat in Frankreich niemals geherrscht. Hier hat
man die Dinge stets bei ihrem Namen genannt und den social-
ökonomischen Thatsachen stets ihren politischen Ausdruck gegeben.
-- Schon vor fünfzehn Jahren erhob sich das französische Volk
gegen die Herrschaft der spekulirenden Finanziers, gegen eine
Klasse, welche vor abermals so vielen Jahren ungefähr, vor
dreißig und etlichen Jahren, unter der Regierung Louis Philipp's,
die politischen Rechte für sich allein monopolisirte, die das Volk
wiederholt, vom Jahre 1789 bis zum Jahre 1830, für alle pro-
duktive Arbeit, für jede nützliche Thätigkeit erkämpfte. Denn,
meine Herren, keineswegs blos für die große Jndustrie, die in
ihrer ausgedehnten Gestalt damals noch gar nicht existirte, keines-
wegs blos für diese ohne jene produktive Klasse, sondern für alle
Arbeiter, für alle Staatsbürger, für alle citoyens hatte das
französische Volk sich gegen das historische Recht beider Stände,
des Adels und der Geistlichkeit, erhoben und sein edelstes Herz-
blut vergossen. Aber in Folge der Entwickelung der Jndustrie
wuchs unvermerkt der Bourgeois dem citoyen, der Bürger dem
Staatsbürger über den Kopf. Noch im Jahre 1830 war dar-
über kaum ein Bewußtsein in der öffentlichen Meinung vorhan-
den, obgleich die socialistischen Schulen, welche über die Geldaristo-
kratie und Kapitalherrschaft schrieen, längst existirten. Man hatte
eben die Erfahrung davon noch nicht im politischen Leben ge-
macht, und dann stürzte die Restauration, das Gespenst der
alten, längst getödteten Adels= und Priesterherrschaft, in dem
guten Glauben, daß nun wieder, wie im Jahre 1789, alle pro-
duktiven Klassen zur politischen Gleichberechtigung gelangen wür-
den. Aber die großen Kapitalisten, welche faktisch schon die
sociale Macht besaßen, wollten ihr auch die gesetzliche Sanktion
geben. So schufen eine kleinere Wählerklasse von Hochbesteuerten,
das sogenannte pays legal, und schlossen die große Volksmasse,
Kleinbürger, Bauern und Lohnarbeiter, vom Wahlkörper und
folglich von der Vertretung ihrer Jnteressen aus. So wie das
französische Volk den Streich merkte, fing es an, sich gegen die
bürgerlichen Usurpatoren zu empören. Die Lehren der fran-
zösischen Socialisten, die bis dahin nur Schulen bildeten, dran-
gen nun in's Volk. Von Jahr zu Jahr wurde die politische
Atmosphäre schwüler, die Feindschaft gegen die Usurpatoren größer.
Das längst gefürchtete Gewitter kam im Februar 1848 zum
Ausbruch. Der Blitz schlug, wie immer, in die Spitzen der
Gesellschaft -- und der Julithron loderte in hellen Flammen auf.

Alle Welt war von diesem unerwarteten Donnerwetter über-
rascht; und später stimmten sogar unsere revolutionärsten Socia-
listen ( die revolutionärsten wenigstens auf dem Papiere ) dem Ur-
theile der deutschen Philister bei, daß die Februar = Revolution
eine bloße "Ueberraschung" und eine pure "Ueberrumpelung" ge-
wesen sei. -- So oft ein geschichtliches Ereigniß eine geschicht-
liche Jllusion zerstört, ist für die Enttäuschten das geschichtliche
Ereigniß eine Ueberraschung. Nur für Diejenigen ist es keine,
welche das geschichtliche Ereigniß vollziehen. Das Volk, welches
den Julithron gestürzt hatte, war sich "in seinem dunklen Drange
des rechten Weges wohl bewußt", mehr bewußt, als die gelehrten
Herren, die es hinterher schulmeisterten. -- Es begnügte sich
nicht mehr damit, das Recht der Arbeit gegen die Vorrechte der
unproduktiv gewordenen Stände des Mittelalters zu reklamiren.
Dieses Recht war ja schon längst zur Anerkennung gekommen,
war schon im eigentlichen Sinne ein historisches geworden; denn
es hatte bereits eine bevorzugte Klasse geschaffen, die sich nicht
mehr auf die Arbeit selbst, sondern auf Produkte früherer Arbeit
stützte, auf die schon vollbrachte Arbeit, mit anderen Worten:
auf das Kapital.

Verweilen wir einen Angenblick bei diesem wichtigen ökono-
mischen Faktor.



[Spaltenumbruch]
Sinnsprüche
von Platen.

Deine Religion sei die der Vernünftigen. Sie bestehe im
Glauben an die große, Alles durchdringende Seele, deren Kör-
per wir die Welt nennen; im Glauben an eine Vorsehung, deren
lenkende Gegenwart alle Vorfälle deines Lebens dir unverkennbar
bewiesen.



Laß keine Zweifel, keine Zweifler dich irre machen. Es ist
weder möglich, noch denkbar, daß du, mit menschlichem Verstande,
mit Gottheit und die ursprüngliche Erschaffung der Dinge be-
greifen könnest da du nur einen so kleinen Theil des Univer-
sums übersiehst, und selbst diesen nur sinnlich und von außenher
erkennst. Jn's Jnnere der Natur, sagt uns Haller mit Recht,
dringt kein erschaffener Geist.



Denke aber deshalb nicht verpflichtet zu sein, Dasjenige als
wahr anzunehmen, was dir von den Menschen überliefert wor-
den. Sobald du einmal die Vernunft unterdrücken mußt, so
hat dein Glaube weder bestimmtes Ziel, noch Gränze. Du
möchtest dann das Schicksal jenes englischen Bischofs haben, dem
die Mysterien des Christenthums nicht genügten, und der es,
in der guten Meinung, sich im Glauben zu üben, so weit brachte,
daß er auch die Feen=Märchen für wahrhaftige Dinge hielt.



Die Vorsehung zu glauben, die du niemals körperlich er-
kennen kannst, ist der Beschränktheit deiner menschlichen Natur
angemessen. aber denke nicht, Gott könne fordern, daß du Dinge
anerkennst, die dem gesunden Verstande widersprechen, den er
dir gab, durch den du ihm angehörst.



Theile nur Denen deine Grundsätze mit, die von gleichen
oder ähnlichen beseelt sind. Laß die herrschende Religion unan-
gefochten. Niemand, der sich nicht selbst überzeugt, wird von
dir überzeugt werden. Die Weltoerbesserung geht einen sehr
langsamen Weg. Laß die Zeit gewähren. Alle Anschläge einer
plötzlichen Aufklärung mißlangen.



Sogenannte Religionsstreite führe niemals, und breche das
Gespräch ab, sobald man dir Gelegenheit dazu geben möchte.



Ehre im Christenthum die Reinheit seiner Moral und Alles,
was geehrt zu werden verdient. Ehre in seinem Stifter, was
dir bei einem Platon oder Marc = Aurel Bewunderung ablockt,
und noch mehr als dies. Er fühlte mehr, was das schwache
Menschengeschlecht zumeist bedürfe -- feste Bestimmung seiner
schwankenden Meinungen, untrügliche Aussichten. Er glaubte
sich berechtigt und berufen, Dasjenige, im Namen der Gottheit
selbst zu verkündigen als gewiß und unfehlbar, was er in seiner
großen Seele für wahr und unumstößlich hielt; nämlich daß
alles Gute gute, alles Böse aber endlich böse Früchte erzeugen
müsse. Gewiß wurden viele jener Dogmata, die späterhin seine
Jünger und deren Nachfolger ausbreiteten, niemals von ihm
beabsichtigt.



Versäume den Körper nicht, von dem dein ganzes Erden-
sein abhängt. Unterrichte dich, was ihm frommt und was ihm
verderblich ist. Verachte ihn nicht; aber auf der andern Seite
bedenke, wie sehr er eine träge, unbrauchbare und verwesende
Masse sei, sobald er des Lebens, das ihn beseelte, ermangelt.



Quäle dich nicht mit Muthmaßungen über ein künftiges
Sein. Sobald du die Zwecke deines jetzigen immer vor Augen
hattest, so ist dein Leben vollendet, wenn dich auch der Tod
mitten unter deinen Hoffnungen und Plänen hinwegnimmt.



Aufrichtiges Wollen genügt, um das Gute rein zu erkennen.
Aber nur Nachdenken und Aufmerksamkeit auf uns selbst, führen
zu jenem schnellen Scharfblick und jener Freiheit der Unterschei-
dungskraft, die bei den mannigfachen und verwickelten Ereignissen
unsers Lebens so nöthig sind.



[Ende Spaltensatz]

Zur Unterhaltung und Belehrung. 23
[Beginn Spaltensatz] partei angeschlossen haben! Sie erzählen ihnen mit breiter Um-
ständlichkeit, daß wir eine ganz andere politische und sociale Ent-
wickelung gehabt, als die bösen Franzosen, die sich in Klassen-
kämpfen aufgerieben hätten, während bei uns alle Klassen noch
heute in der lieblichsten Einmüthigkeit — zwar nicht handeln,
aber petitioniren, demonstriren und — gemeinsame Ohrfeigen
und Fußtritte von oben empfangen. — Allerdings, meine Herren,
diese Einmüthigkeit im passiven Widerstand unter allen Klassen
der Gesellschaft hat in Frankreich niemals geherrscht. Hier hat
man die Dinge stets bei ihrem Namen genannt und den social-
ökonomischen Thatsachen stets ihren politischen Ausdruck gegeben.
— Schon vor fünfzehn Jahren erhob sich das französische Volk
gegen die Herrschaft der spekulirenden Finanziers, gegen eine
Klasse, welche vor abermals so vielen Jahren ungefähr, vor
dreißig und etlichen Jahren, unter der Regierung Louis Philipp's,
die politischen Rechte für sich allein monopolisirte, die das Volk
wiederholt, vom Jahre 1789 bis zum Jahre 1830, für alle pro-
duktive Arbeit, für jede nützliche Thätigkeit erkämpfte. Denn,
meine Herren, keineswegs blos für die große Jndustrie, die in
ihrer ausgedehnten Gestalt damals noch gar nicht existirte, keines-
wegs blos für diese ohne jene produktive Klasse, sondern für alle
Arbeiter, für alle Staatsbürger, für alle citoyens hatte das
französische Volk sich gegen das historische Recht beider Stände,
des Adels und der Geistlichkeit, erhoben und sein edelstes Herz-
blut vergossen. Aber in Folge der Entwickelung der Jndustrie
wuchs unvermerkt der Bourgeois dem citoyen, der Bürger dem
Staatsbürger über den Kopf. Noch im Jahre 1830 war dar-
über kaum ein Bewußtsein in der öffentlichen Meinung vorhan-
den, obgleich die socialistischen Schulen, welche über die Geldaristo-
kratie und Kapitalherrschaft schrieen, längst existirten. Man hatte
eben die Erfahrung davon noch nicht im politischen Leben ge-
macht, und dann stürzte die Restauration, das Gespenst der
alten, längst getödteten Adels= und Priesterherrschaft, in dem
guten Glauben, daß nun wieder, wie im Jahre 1789, alle pro-
duktiven Klassen zur politischen Gleichberechtigung gelangen wür-
den. Aber die großen Kapitalisten, welche faktisch schon die
sociale Macht besaßen, wollten ihr auch die gesetzliche Sanktion
geben. So schufen eine kleinere Wählerklasse von Hochbesteuerten,
das sogenannte pays légal, und schlossen die große Volksmasse,
Kleinbürger, Bauern und Lohnarbeiter, vom Wahlkörper und
folglich von der Vertretung ihrer Jnteressen aus. So wie das
französische Volk den Streich merkte, fing es an, sich gegen die
bürgerlichen Usurpatoren zu empören. Die Lehren der fran-
zösischen Socialisten, die bis dahin nur Schulen bildeten, dran-
gen nun in's Volk. Von Jahr zu Jahr wurde die politische
Atmosphäre schwüler, die Feindschaft gegen die Usurpatoren größer.
Das längst gefürchtete Gewitter kam im Februar 1848 zum
Ausbruch. Der Blitz schlug, wie immer, in die Spitzen der
Gesellschaft — und der Julithron loderte in hellen Flammen auf.

Alle Welt war von diesem unerwarteten Donnerwetter über-
rascht; und später stimmten sogar unsere revolutionärsten Socia-
listen ( die revolutionärsten wenigstens auf dem Papiere ) dem Ur-
theile der deutschen Philister bei, daß die Februar = Revolution
eine bloße „Ueberraschung“ und eine pure „Ueberrumpelung“ ge-
wesen sei. — So oft ein geschichtliches Ereigniß eine geschicht-
liche Jllusion zerstört, ist für die Enttäuschten das geschichtliche
Ereigniß eine Ueberraschung. Nur für Diejenigen ist es keine,
welche das geschichtliche Ereigniß vollziehen. Das Volk, welches
den Julithron gestürzt hatte, war sich „in seinem dunklen Drange
des rechten Weges wohl bewußt“, mehr bewußt, als die gelehrten
Herren, die es hinterher schulmeisterten. — Es begnügte sich
nicht mehr damit, das Recht der Arbeit gegen die Vorrechte der
unproduktiv gewordenen Stände des Mittelalters zu reklamiren.
Dieses Recht war ja schon längst zur Anerkennung gekommen,
war schon im eigentlichen Sinne ein historisches geworden; denn
es hatte bereits eine bevorzugte Klasse geschaffen, die sich nicht
mehr auf die Arbeit selbst, sondern auf Produkte früherer Arbeit
stützte, auf die schon vollbrachte Arbeit, mit anderen Worten:
auf das Kapital.

Verweilen wir einen Angenblick bei diesem wichtigen ökono-
mischen Faktor.



[Spaltenumbruch]
Sinnsprüche
von Platen.

Deine Religion sei die der Vernünftigen. Sie bestehe im
Glauben an die große, Alles durchdringende Seele, deren Kör-
per wir die Welt nennen; im Glauben an eine Vorsehung, deren
lenkende Gegenwart alle Vorfälle deines Lebens dir unverkennbar
bewiesen.



Laß keine Zweifel, keine Zweifler dich irre machen. Es ist
weder möglich, noch denkbar, daß du, mit menschlichem Verstande,
mit Gottheit und die ursprüngliche Erschaffung der Dinge be-
greifen könnest da du nur einen so kleinen Theil des Univer-
sums übersiehst, und selbst diesen nur sinnlich und von außenher
erkennst. Jn's Jnnere der Natur, sagt uns Haller mit Recht,
dringt kein erschaffener Geist.



Denke aber deshalb nicht verpflichtet zu sein, Dasjenige als
wahr anzunehmen, was dir von den Menschen überliefert wor-
den. Sobald du einmal die Vernunft unterdrücken mußt, so
hat dein Glaube weder bestimmtes Ziel, noch Gränze. Du
möchtest dann das Schicksal jenes englischen Bischofs haben, dem
die Mysterien des Christenthums nicht genügten, und der es,
in der guten Meinung, sich im Glauben zu üben, so weit brachte,
daß er auch die Feen=Märchen für wahrhaftige Dinge hielt.



Die Vorsehung zu glauben, die du niemals körperlich er-
kennen kannst, ist der Beschränktheit deiner menschlichen Natur
angemessen. aber denke nicht, Gott könne fordern, daß du Dinge
anerkennst, die dem gesunden Verstande widersprechen, den er
dir gab, durch den du ihm angehörst.



Theile nur Denen deine Grundsätze mit, die von gleichen
oder ähnlichen beseelt sind. Laß die herrschende Religion unan-
gefochten. Niemand, der sich nicht selbst überzeugt, wird von
dir überzeugt werden. Die Weltoerbesserung geht einen sehr
langsamen Weg. Laß die Zeit gewähren. Alle Anschläge einer
plötzlichen Aufklärung mißlangen.



Sogenannte Religionsstreite führe niemals, und breche das
Gespräch ab, sobald man dir Gelegenheit dazu geben möchte.



Ehre im Christenthum die Reinheit seiner Moral und Alles,
was geehrt zu werden verdient. Ehre in seinem Stifter, was
dir bei einem Platon oder Marc = Aurel Bewunderung ablockt,
und noch mehr als dies. Er fühlte mehr, was das schwache
Menschengeschlecht zumeist bedürfe — feste Bestimmung seiner
schwankenden Meinungen, untrügliche Aussichten. Er glaubte
sich berechtigt und berufen, Dasjenige, im Namen der Gottheit
selbst zu verkündigen als gewiß und unfehlbar, was er in seiner
großen Seele für wahr und unumstößlich hielt; nämlich daß
alles Gute gute, alles Böse aber endlich böse Früchte erzeugen
müsse. Gewiß wurden viele jener Dogmata, die späterhin seine
Jünger und deren Nachfolger ausbreiteten, niemals von ihm
beabsichtigt.



Versäume den Körper nicht, von dem dein ganzes Erden-
sein abhängt. Unterrichte dich, was ihm frommt und was ihm
verderblich ist. Verachte ihn nicht; aber auf der andern Seite
bedenke, wie sehr er eine träge, unbrauchbare und verwesende
Masse sei, sobald er des Lebens, das ihn beseelte, ermangelt.



Quäle dich nicht mit Muthmaßungen über ein künftiges
Sein. Sobald du die Zwecke deines jetzigen immer vor Augen
hattest, so ist dein Leben vollendet, wenn dich auch der Tod
mitten unter deinen Hoffnungen und Plänen hinwegnimmt.



Aufrichtiges Wollen genügt, um das Gute rein zu erkennen.
Aber nur Nachdenken und Aufmerksamkeit auf uns selbst, führen
zu jenem schnellen Scharfblick und jener Freiheit der Unterschei-
dungskraft, die bei den mannigfachen und verwickelten Ereignissen
unsers Lebens so nöthig sind.



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[23/0023] Zur Unterhaltung und Belehrung. 23 partei angeschlossen haben! Sie erzählen ihnen mit breiter Um- ständlichkeit, daß wir eine ganz andere politische und sociale Ent- wickelung gehabt, als die bösen Franzosen, die sich in Klassen- kämpfen aufgerieben hätten, während bei uns alle Klassen noch heute in der lieblichsten Einmüthigkeit — zwar nicht handeln, aber petitioniren, demonstriren und — gemeinsame Ohrfeigen und Fußtritte von oben empfangen. — Allerdings, meine Herren, diese Einmüthigkeit im passiven Widerstand unter allen Klassen der Gesellschaft hat in Frankreich niemals geherrscht. Hier hat man die Dinge stets bei ihrem Namen genannt und den social- ökonomischen Thatsachen stets ihren politischen Ausdruck gegeben. — Schon vor fünfzehn Jahren erhob sich das französische Volk gegen die Herrschaft der spekulirenden Finanziers, gegen eine Klasse, welche vor abermals so vielen Jahren ungefähr, vor dreißig und etlichen Jahren, unter der Regierung Louis Philipp's, die politischen Rechte für sich allein monopolisirte, die das Volk wiederholt, vom Jahre 1789 bis zum Jahre 1830, für alle pro- duktive Arbeit, für jede nützliche Thätigkeit erkämpfte. Denn, meine Herren, keineswegs blos für die große Jndustrie, die in ihrer ausgedehnten Gestalt damals noch gar nicht existirte, keines- wegs blos für diese ohne jene produktive Klasse, sondern für alle Arbeiter, für alle Staatsbürger, für alle citoyens hatte das französische Volk sich gegen das historische Recht beider Stände, des Adels und der Geistlichkeit, erhoben und sein edelstes Herz- blut vergossen. Aber in Folge der Entwickelung der Jndustrie wuchs unvermerkt der Bourgeois dem citoyen, der Bürger dem Staatsbürger über den Kopf. Noch im Jahre 1830 war dar- über kaum ein Bewußtsein in der öffentlichen Meinung vorhan- den, obgleich die socialistischen Schulen, welche über die Geldaristo- kratie und Kapitalherrschaft schrieen, längst existirten. Man hatte eben die Erfahrung davon noch nicht im politischen Leben ge- macht, und dann stürzte die Restauration, das Gespenst der alten, längst getödteten Adels= und Priesterherrschaft, in dem guten Glauben, daß nun wieder, wie im Jahre 1789, alle pro- duktiven Klassen zur politischen Gleichberechtigung gelangen wür- den. Aber die großen Kapitalisten, welche faktisch schon die sociale Macht besaßen, wollten ihr auch die gesetzliche Sanktion geben. So schufen eine kleinere Wählerklasse von Hochbesteuerten, das sogenannte pays légal, und schlossen die große Volksmasse, Kleinbürger, Bauern und Lohnarbeiter, vom Wahlkörper und folglich von der Vertretung ihrer Jnteressen aus. So wie das französische Volk den Streich merkte, fing es an, sich gegen die bürgerlichen Usurpatoren zu empören. Die Lehren der fran- zösischen Socialisten, die bis dahin nur Schulen bildeten, dran- gen nun in's Volk. Von Jahr zu Jahr wurde die politische Atmosphäre schwüler, die Feindschaft gegen die Usurpatoren größer. Das längst gefürchtete Gewitter kam im Februar 1848 zum Ausbruch. Der Blitz schlug, wie immer, in die Spitzen der Gesellschaft — und der Julithron loderte in hellen Flammen auf. Alle Welt war von diesem unerwarteten Donnerwetter über- rascht; und später stimmten sogar unsere revolutionärsten Socia- listen ( die revolutionärsten wenigstens auf dem Papiere ) dem Ur- theile der deutschen Philister bei, daß die Februar = Revolution eine bloße „Ueberraschung“ und eine pure „Ueberrumpelung“ ge- wesen sei. — So oft ein geschichtliches Ereigniß eine geschicht- liche Jllusion zerstört, ist für die Enttäuschten das geschichtliche Ereigniß eine Ueberraschung. Nur für Diejenigen ist es keine, welche das geschichtliche Ereigniß vollziehen. Das Volk, welches den Julithron gestürzt hatte, war sich „in seinem dunklen Drange des rechten Weges wohl bewußt“, mehr bewußt, als die gelehrten Herren, die es hinterher schulmeisterten. — Es begnügte sich nicht mehr damit, das Recht der Arbeit gegen die Vorrechte der unproduktiv gewordenen Stände des Mittelalters zu reklamiren. Dieses Recht war ja schon längst zur Anerkennung gekommen, war schon im eigentlichen Sinne ein historisches geworden; denn es hatte bereits eine bevorzugte Klasse geschaffen, die sich nicht mehr auf die Arbeit selbst, sondern auf Produkte früherer Arbeit stützte, auf die schon vollbrachte Arbeit, mit anderen Worten: auf das Kapital. Verweilen wir einen Angenblick bei diesem wichtigen ökono- mischen Faktor. Sinnsprüche von Platen. Deine Religion sei die der Vernünftigen. Sie bestehe im Glauben an die große, Alles durchdringende Seele, deren Kör- per wir die Welt nennen; im Glauben an eine Vorsehung, deren lenkende Gegenwart alle Vorfälle deines Lebens dir unverkennbar bewiesen. Laß keine Zweifel, keine Zweifler dich irre machen. Es ist weder möglich, noch denkbar, daß du, mit menschlichem Verstande, mit Gottheit und die ursprüngliche Erschaffung der Dinge be- greifen könnest da du nur einen so kleinen Theil des Univer- sums übersiehst, und selbst diesen nur sinnlich und von außenher erkennst. Jn's Jnnere der Natur, sagt uns Haller mit Recht, dringt kein erschaffener Geist. Denke aber deshalb nicht verpflichtet zu sein, Dasjenige als wahr anzunehmen, was dir von den Menschen überliefert wor- den. Sobald du einmal die Vernunft unterdrücken mußt, so hat dein Glaube weder bestimmtes Ziel, noch Gränze. Du möchtest dann das Schicksal jenes englischen Bischofs haben, dem die Mysterien des Christenthums nicht genügten, und der es, in der guten Meinung, sich im Glauben zu üben, so weit brachte, daß er auch die Feen=Märchen für wahrhaftige Dinge hielt. Die Vorsehung zu glauben, die du niemals körperlich er- kennen kannst, ist der Beschränktheit deiner menschlichen Natur angemessen. aber denke nicht, Gott könne fordern, daß du Dinge anerkennst, die dem gesunden Verstande widersprechen, den er dir gab, durch den du ihm angehörst. Theile nur Denen deine Grundsätze mit, die von gleichen oder ähnlichen beseelt sind. Laß die herrschende Religion unan- gefochten. Niemand, der sich nicht selbst überzeugt, wird von dir überzeugt werden. Die Weltoerbesserung geht einen sehr langsamen Weg. Laß die Zeit gewähren. Alle Anschläge einer plötzlichen Aufklärung mißlangen. Sogenannte Religionsstreite führe niemals, und breche das Gespräch ab, sobald man dir Gelegenheit dazu geben möchte. Ehre im Christenthum die Reinheit seiner Moral und Alles, was geehrt zu werden verdient. Ehre in seinem Stifter, was dir bei einem Platon oder Marc = Aurel Bewunderung ablockt, und noch mehr als dies. Er fühlte mehr, was das schwache Menschengeschlecht zumeist bedürfe — feste Bestimmung seiner schwankenden Meinungen, untrügliche Aussichten. Er glaubte sich berechtigt und berufen, Dasjenige, im Namen der Gottheit selbst zu verkündigen als gewiß und unfehlbar, was er in seiner großen Seele für wahr und unumstößlich hielt; nämlich daß alles Gute gute, alles Böse aber endlich böse Früchte erzeugen müsse. Gewiß wurden viele jener Dogmata, die späterhin seine Jünger und deren Nachfolger ausbreiteten, niemals von ihm beabsichtigt. Versäume den Körper nicht, von dem dein ganzes Erden- sein abhängt. Unterrichte dich, was ihm frommt und was ihm verderblich ist. Verachte ihn nicht; aber auf der andern Seite bedenke, wie sehr er eine träge, unbrauchbare und verwesende Masse sei, sobald er des Lebens, das ihn beseelte, ermangelt. Quäle dich nicht mit Muthmaßungen über ein künftiges Sein. Sobald du die Zwecke deines jetzigen immer vor Augen hattest, so ist dein Leben vollendet, wenn dich auch der Tod mitten unter deinen Hoffnungen und Plänen hinwegnimmt. Aufrichtiges Wollen genügt, um das Gute rein zu erkennen. Aber nur Nachdenken und Aufmerksamkeit auf uns selbst, führen zu jenem schnellen Scharfblick und jener Freiheit der Unterschei- dungskraft, die bei den mannigfachen und verwickelten Ereignissen unsers Lebens so nöthig sind.

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Zitationshilfe: Social-politische Blätter. 1. Lieferung. Berlin, 7. Februar 1874, S. 23. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_social01_1874/23>, abgerufen am 28.03.2024.