Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jean Paul: Die unsichtbare Loge. Bd. 1. Berlin, 1793.

Bild:
<< vorherige Seite

nem letzten Lebensjahre liegt ein großes schwarzes
Siegel; zerbrich' es nicht, halte die Vergangen¬
heit für die Zukunft -- ich mache sie zur Gegen¬
wart für dich, aber noch nicht -- und wenn ich
stürbe, ich träte vor dir und sagte dir mein letz¬
tes Geheimniß der Erde.

Ich schreibe dir, damit du nur weißt, daß ich
lebe und daß ich im Herbste komme. Mein Reise¬
durst ist mit Alpen-Eis und Seewasser gelöscht;
ich ziehe nun heim in meine Ruhestatt und wenn
mich dann unter meiner Hausthüre wieder über die
Berge hinüberverlangt: so denk' ich: in den Gua¬
diana- und in den Wolgastrom sieht das nämliche
lechzende Menschenherz hinein, das in dir neben
dem Rheine seufzet, und was auf die Alpen und
auf den Kaukasus steigt, ist was du bist und wen¬
det ein sehnendes Auge nach deiner Hausthüre her¬
über. Wenn ich aber hier sitze und alle Morgen
auf den Nachtstuhl gehe und froh bin, daß ich
hungrig und nachher daß ich satt werde und wenn
ich alle Tage Hosen und Haarnadeln ausziehe und
anstecke: ach! was ists denn da am Ende? Was
wollt' ich denn haben, wenn ich in meiner Kindheit
auf dem Stein meines Thorwegs saß und sehnend

nem letzten Lebensjahre liegt ein großes ſchwarzes
Siegel; zerbrich' es nicht, halte die Vergangen¬
heit fuͤr die Zukunft — ich mache ſie zur Gegen¬
wart fuͤr dich, aber noch nicht — und wenn ich
ſtuͤrbe, ich traͤte vor dir und ſagte dir mein letz¬
tes Geheimniß der Erde.

Ich ſchreibe dir, damit du nur weißt, daß ich
lebe und daß ich im Herbſte komme. Mein Reiſe¬
durſt iſt mit Alpen-Eis und Seewaſſer geloͤſcht;
ich ziehe nun heim in meine Ruheſtatt und wenn
mich dann unter meiner Hausthuͤre wieder uͤber die
Berge hinuͤberverlangt: ſo denk' ich: in den Gua¬
diana- und in den Wolgaſtrom ſieht das naͤmliche
lechzende Menſchenherz hinein, das in dir neben
dem Rheine ſeufzet, und was auf die Alpen und
auf den Kaukaſus ſteigt, iſt was du biſt und wen¬
det ein ſehnendes Auge nach deiner Hausthuͤre her¬
uͤber. Wenn ich aber hier ſitze und alle Morgen
auf den Nachtſtuhl gehe und froh bin, daß ich
hungrig und nachher daß ich ſatt werde und wenn
ich alle Tage Hoſen und Haarnadeln ausziehe und
anſtecke: ach! was iſts denn da am Ende? Was
wollt' ich denn haben, wenn ich in meiner Kindheit
auf dem Stein meines Thorwegs ſaß und ſehnend

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0399" n="363"/>
nem letzten Lebensjahre liegt ein großes &#x017F;chwarzes<lb/>
Siegel; zerbrich' es nicht, halte die Vergangen¬<lb/>
heit fu&#x0364;r die Zukunft &#x2014; ich mache &#x017F;ie zur Gegen¬<lb/>
wart fu&#x0364;r dich, aber noch nicht &#x2014; und wenn ich<lb/>
&#x017F;tu&#x0364;rbe, ich tra&#x0364;te vor dir und &#x017F;agte dir mein letz¬<lb/>
tes Geheimniß der Erde.</p><lb/>
          <p>Ich &#x017F;chreibe dir, damit du nur weißt, daß ich<lb/>
lebe und daß ich im Herb&#x017F;te komme. Mein Rei&#x017F;<lb/>
dur&#x017F;t i&#x017F;t mit Alpen-Eis und Seewa&#x017F;&#x017F;er gelo&#x0364;&#x017F;cht;<lb/>
ich ziehe nun heim in meine Ruhe&#x017F;tatt und wenn<lb/>
mich dann unter meiner Hausthu&#x0364;re wieder u&#x0364;ber die<lb/>
Berge hinu&#x0364;berverlangt: &#x017F;o denk' ich: in den Gua¬<lb/>
diana- und in den Wolga&#x017F;trom &#x017F;ieht das na&#x0364;mliche<lb/>
lechzende Men&#x017F;chenherz hinein, das in dir neben<lb/>
dem Rheine &#x017F;eufzet, und was auf die Alpen und<lb/>
auf den Kauka&#x017F;us &#x017F;teigt, i&#x017F;t was du bi&#x017F;t und wen¬<lb/>
det ein &#x017F;ehnendes Auge nach deiner Hausthu&#x0364;re her¬<lb/>
u&#x0364;ber. Wenn ich aber hier &#x017F;itze und alle Morgen<lb/>
auf den Nacht&#x017F;tuhl gehe und froh bin, daß ich<lb/>
hungrig und nachher daß ich &#x017F;att werde und wenn<lb/>
ich alle Tage Ho&#x017F;en und Haarnadeln ausziehe und<lb/>
an&#x017F;tecke: ach! was i&#x017F;ts denn da am Ende? Was<lb/>
wollt' ich denn haben, wenn ich in meiner Kindheit<lb/>
auf dem Stein meines Thorwegs &#x017F;aß und &#x017F;ehnend<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[363/0399] nem letzten Lebensjahre liegt ein großes ſchwarzes Siegel; zerbrich' es nicht, halte die Vergangen¬ heit fuͤr die Zukunft — ich mache ſie zur Gegen¬ wart fuͤr dich, aber noch nicht — und wenn ich ſtuͤrbe, ich traͤte vor dir und ſagte dir mein letz¬ tes Geheimniß der Erde. Ich ſchreibe dir, damit du nur weißt, daß ich lebe und daß ich im Herbſte komme. Mein Reiſe¬ durſt iſt mit Alpen-Eis und Seewaſſer geloͤſcht; ich ziehe nun heim in meine Ruheſtatt und wenn mich dann unter meiner Hausthuͤre wieder uͤber die Berge hinuͤberverlangt: ſo denk' ich: in den Gua¬ diana- und in den Wolgaſtrom ſieht das naͤmliche lechzende Menſchenherz hinein, das in dir neben dem Rheine ſeufzet, und was auf die Alpen und auf den Kaukaſus ſteigt, iſt was du biſt und wen¬ det ein ſehnendes Auge nach deiner Hausthuͤre her¬ uͤber. Wenn ich aber hier ſitze und alle Morgen auf den Nachtſtuhl gehe und froh bin, daß ich hungrig und nachher daß ich ſatt werde und wenn ich alle Tage Hoſen und Haarnadeln ausziehe und anſtecke: ach! was iſts denn da am Ende? Was wollt' ich denn haben, wenn ich in meiner Kindheit auf dem Stein meines Thorwegs ſaß und ſehnend

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/paul_loge01_1793
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/paul_loge01_1793/399
Zitationshilfe: Jean Paul: Die unsichtbare Loge. Bd. 1. Berlin, 1793, S. 363. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_loge01_1793/399>, abgerufen am 24.04.2024.