Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Rein, Johann Justus: Japan nach Reisen und Studien. Bd. 2. Leipzig, 1886.

Bild:
<< vorherige Seite

Einleitung.
nationalen Ausstellungen der Neuzeit Japan durch hervorragende Lei-
stungen sich auszeichnete, während es zu Hause seine erste Eisenbahn
eröffnete, bei deren Plan und Bau kein fremder Ingenieur mitwirkte,
so sind dies alles eben so viele Beweise von Talent und Hingabe einer
in überraschender Weise aufstrebenden Nation. Aber einen noch
grösseren Sieg haben Regierung und Volk auf religiösem Gebiete er-
rungen, indem sie endlich von alten Vorurtheilen, Hass und strengem
Verbot gegen das Christenthum durch mancherlei Uebergangsstadien
bis zur vollen Religionsfreiheit gelangt sind, welche ihre günstige
Wirkung für die Ausbreitung der christlichen Lehre nicht verfehlen
wird.

Mit der Restauration der Mikadoherrschaft im Jahre 1868 brach
das ganze Feudalsystem zusammen. Die Daimio's verliessen, theils
freiwillig, theils von der neuen Regierung gezwungen, für immer ihre
festen Burgen, von denen manche in dieser Uebergangszeit der Zer-
störung anheimfielen, sodass ihre Ruinen gleich vielen bei uns als
stumme Zeugen einer anders gearteten Zeit in's Land schauen. Den
buddhistischen Tempeln und Klöstern droht ein ähnliches Schicksal.
Mit der Reorganisation der Verwaltung zog schon ein neuer Geist ein,
ein Hauch der christlichen Civilisation, dessen Wirkungen bereits kurz
angedeutet wurden. Die neuerdings verkündigte Religionsfreiheit ist
ein weiterer naturgemässer Schritt auf dieser Bahn, durch welchen
das räumlich fernste Land und Volk Asiens uns geistig noch näher
gerückt wird, als dies bisher bereits geschah. Im Hinblick auf alle
diese Erscheinungen sind auch hier Schillers Worte anwendbar:

"Das Alte stürzt, es ändert sich die Zeit,
Und neues Leben blüht aus den Ruinen."

Das alte Japan fand in China sein Ideal, in den chinesischen Lei-
stungen auf staatlichem, gewerblichem und intellectuellem Gebiete, das
neue sucht sich dasselbe im christlichen Abendlande. Im ersten Bande
dieses Werkes*) ist gezeigt oder angedeutet worden, wie die Japaner
durch Körperbau, Sprache und charakteristische Geisteszüge als eigen-
artiger Zweig der grossen mongolischen Völkerfamilie erscheinen, dem
chinesischen Culturkreise angehörten und ihre ganze gesellschaftliche,
landwirthschaftliche und gewerbliche Entwickelung nach chinesischem
Muster, vornehmlich über Korea erhielten. Auch wurde dabei der
Einführung des Buddhismus und der chinesischen Philosophie, ins-
besondere der Lehre des Confucius, gedacht, als Trägern dieser eigen-

*) Rein, Japan. Natur und Volk des Mikadoreiches. Leipzig. W. Engel-
mann. 1881.

Einleitung.
nationalen Ausstellungen der Neuzeit Japan durch hervorragende Lei-
stungen sich auszeichnete, während es zu Hause seine erste Eisenbahn
eröffnete, bei deren Plan und Bau kein fremder Ingenieur mitwirkte,
so sind dies alles eben so viele Beweise von Talent und Hingabe einer
in überraschender Weise aufstrebenden Nation. Aber einen noch
grösseren Sieg haben Regierung und Volk auf religiösem Gebiete er-
rungen, indem sie endlich von alten Vorurtheilen, Hass und strengem
Verbot gegen das Christenthum durch mancherlei Uebergangsstadien
bis zur vollen Religionsfreiheit gelangt sind, welche ihre günstige
Wirkung für die Ausbreitung der christlichen Lehre nicht verfehlen
wird.

Mit der Restauration der Mikadoherrschaft im Jahre 1868 brach
das ganze Feudalsystem zusammen. Die Daimiô’s verliessen, theils
freiwillig, theils von der neuen Regierung gezwungen, für immer ihre
festen Burgen, von denen manche in dieser Uebergangszeit der Zer-
störung anheimfielen, sodass ihre Ruinen gleich vielen bei uns als
stumme Zeugen einer anders gearteten Zeit in’s Land schauen. Den
buddhistischen Tempeln und Klöstern droht ein ähnliches Schicksal.
Mit der Reorganisation der Verwaltung zog schon ein neuer Geist ein,
ein Hauch der christlichen Civilisation, dessen Wirkungen bereits kurz
angedeutet wurden. Die neuerdings verkündigte Religionsfreiheit ist
ein weiterer naturgemässer Schritt auf dieser Bahn, durch welchen
das räumlich fernste Land und Volk Asiens uns geistig noch näher
gerückt wird, als dies bisher bereits geschah. Im Hinblick auf alle
diese Erscheinungen sind auch hier Schillers Worte anwendbar:

»Das Alte stürzt, es ändert sich die Zeit,
Und neues Leben blüht aus den Ruinen.«

Das alte Japan fand in China sein Ideal, in den chinesischen Lei-
stungen auf staatlichem, gewerblichem und intellectuellem Gebiete, das
neue sucht sich dasselbe im christlichen Abendlande. Im ersten Bande
dieses Werkes*) ist gezeigt oder angedeutet worden, wie die Japaner
durch Körperbau, Sprache und charakteristische Geisteszüge als eigen-
artiger Zweig der grossen mongolischen Völkerfamilie erscheinen, dem
chinesischen Culturkreise angehörten und ihre ganze gesellschaftliche,
landwirthschaftliche und gewerbliche Entwickelung nach chinesischem
Muster, vornehmlich über Korea erhielten. Auch wurde dabei der
Einführung des Buddhismus und der chinesischen Philosophie, ins-
besondere der Lehre des Confucius, gedacht, als Trägern dieser eigen-

*) Rein, Japan. Natur und Volk des Mikadoreiches. Leipzig. W. Engel-
mann. 1881.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0022" n="2"/><fw place="top" type="header">Einleitung.</fw><lb/>
nationalen Ausstellungen der Neuzeit Japan durch hervorragende Lei-<lb/>
stungen sich auszeichnete, während es zu Hause seine erste Eisenbahn<lb/>
eröffnete, bei deren Plan und Bau kein fremder Ingenieur mitwirkte,<lb/>
so sind dies alles eben so viele Beweise von Talent und Hingabe einer<lb/>
in überraschender Weise aufstrebenden Nation. Aber einen noch<lb/>
grösseren Sieg haben Regierung und Volk auf religiösem Gebiete er-<lb/>
rungen, indem sie endlich von alten Vorurtheilen, Hass und strengem<lb/>
Verbot gegen das Christenthum durch mancherlei Uebergangsstadien<lb/>
bis zur vollen Religionsfreiheit gelangt sind, welche ihre günstige<lb/>
Wirkung für die Ausbreitung der christlichen Lehre nicht verfehlen<lb/>
wird.</p><lb/>
        <p>Mit der Restauration der Mikadoherrschaft im Jahre 1868 brach<lb/>
das ganze Feudalsystem zusammen. Die Daimiô&#x2019;s verliessen, theils<lb/>
freiwillig, theils von der neuen Regierung gezwungen, für immer ihre<lb/>
festen Burgen, von denen manche in dieser Uebergangszeit der Zer-<lb/>
störung anheimfielen, sodass ihre Ruinen gleich vielen bei uns als<lb/>
stumme Zeugen einer anders gearteten Zeit in&#x2019;s Land schauen. Den<lb/>
buddhistischen Tempeln und Klöstern droht ein ähnliches Schicksal.<lb/>
Mit der Reorganisation der Verwaltung zog schon ein neuer Geist ein,<lb/>
ein Hauch der christlichen Civilisation, dessen Wirkungen bereits kurz<lb/>
angedeutet wurden. Die neuerdings verkündigte Religionsfreiheit ist<lb/>
ein weiterer naturgemässer Schritt auf dieser Bahn, durch welchen<lb/>
das räumlich fernste Land und Volk Asiens uns geistig noch näher<lb/>
gerückt wird, als dies bisher bereits geschah. Im Hinblick auf alle<lb/>
diese Erscheinungen sind auch hier Schillers Worte anwendbar:</p><lb/>
        <lg type="poem">
          <l>»Das Alte stürzt, es ändert sich die Zeit,</l><lb/>
          <l>Und neues Leben blüht aus den Ruinen.«</l>
        </lg><lb/>
        <p>Das alte Japan fand in China sein Ideal, in den chinesischen Lei-<lb/>
stungen auf staatlichem, gewerblichem und intellectuellem Gebiete, das<lb/>
neue sucht sich dasselbe im christlichen Abendlande. Im ersten Bande<lb/>
dieses Werkes<note place="foot" n="*)"><hi rendition="#g">Rein</hi>, Japan. Natur und Volk des Mikadoreiches. Leipzig. W. Engel-<lb/>
mann. 1881.</note> ist gezeigt oder angedeutet worden, wie die Japaner<lb/>
durch Körperbau, Sprache und charakteristische Geisteszüge als eigen-<lb/>
artiger Zweig der grossen mongolischen Völkerfamilie erscheinen, dem<lb/>
chinesischen Culturkreise angehörten und ihre ganze gesellschaftliche,<lb/>
landwirthschaftliche und gewerbliche Entwickelung nach chinesischem<lb/>
Muster, vornehmlich über Korea erhielten. Auch wurde dabei der<lb/>
Einführung des Buddhismus und der chinesischen Philosophie, ins-<lb/>
besondere der Lehre des Confucius, gedacht, als Trägern dieser eigen-<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[2/0022] Einleitung. nationalen Ausstellungen der Neuzeit Japan durch hervorragende Lei- stungen sich auszeichnete, während es zu Hause seine erste Eisenbahn eröffnete, bei deren Plan und Bau kein fremder Ingenieur mitwirkte, so sind dies alles eben so viele Beweise von Talent und Hingabe einer in überraschender Weise aufstrebenden Nation. Aber einen noch grösseren Sieg haben Regierung und Volk auf religiösem Gebiete er- rungen, indem sie endlich von alten Vorurtheilen, Hass und strengem Verbot gegen das Christenthum durch mancherlei Uebergangsstadien bis zur vollen Religionsfreiheit gelangt sind, welche ihre günstige Wirkung für die Ausbreitung der christlichen Lehre nicht verfehlen wird. Mit der Restauration der Mikadoherrschaft im Jahre 1868 brach das ganze Feudalsystem zusammen. Die Daimiô’s verliessen, theils freiwillig, theils von der neuen Regierung gezwungen, für immer ihre festen Burgen, von denen manche in dieser Uebergangszeit der Zer- störung anheimfielen, sodass ihre Ruinen gleich vielen bei uns als stumme Zeugen einer anders gearteten Zeit in’s Land schauen. Den buddhistischen Tempeln und Klöstern droht ein ähnliches Schicksal. Mit der Reorganisation der Verwaltung zog schon ein neuer Geist ein, ein Hauch der christlichen Civilisation, dessen Wirkungen bereits kurz angedeutet wurden. Die neuerdings verkündigte Religionsfreiheit ist ein weiterer naturgemässer Schritt auf dieser Bahn, durch welchen das räumlich fernste Land und Volk Asiens uns geistig noch näher gerückt wird, als dies bisher bereits geschah. Im Hinblick auf alle diese Erscheinungen sind auch hier Schillers Worte anwendbar: »Das Alte stürzt, es ändert sich die Zeit, Und neues Leben blüht aus den Ruinen.« Das alte Japan fand in China sein Ideal, in den chinesischen Lei- stungen auf staatlichem, gewerblichem und intellectuellem Gebiete, das neue sucht sich dasselbe im christlichen Abendlande. Im ersten Bande dieses Werkes *) ist gezeigt oder angedeutet worden, wie die Japaner durch Körperbau, Sprache und charakteristische Geisteszüge als eigen- artiger Zweig der grossen mongolischen Völkerfamilie erscheinen, dem chinesischen Culturkreise angehörten und ihre ganze gesellschaftliche, landwirthschaftliche und gewerbliche Entwickelung nach chinesischem Muster, vornehmlich über Korea erhielten. Auch wurde dabei der Einführung des Buddhismus und der chinesischen Philosophie, ins- besondere der Lehre des Confucius, gedacht, als Trägern dieser eigen- *) Rein, Japan. Natur und Volk des Mikadoreiches. Leipzig. W. Engel- mann. 1881.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/rein_japan02_1886
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/rein_japan02_1886/22
Zitationshilfe: Rein, Johann Justus: Japan nach Reisen und Studien. Bd. 2. Leipzig, 1886, S. 2. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rein_japan02_1886/22>, abgerufen am 25.04.2024.