Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 3. Göttingen, 1749.

Bild:
<< vorherige Seite



will ihn auslocken, ob er mir diese Zimmer in seinem
Gemüth bestimmet hat. Wenn ich jetzt die Unter-
redung abbreche, und er fänget sie morgen früh mit
einiger Hitze wieder an: so fürchte ich, daß er sich
verstellet hat, als er bey dem Vorschlage wegen
London gleichgültig zu seyn schien, und daß ich
eine vorher bestimmte Wohnung zu beziehen genö-
thiget werden soll. Alsdenn will ich gar nicht nach
London reisen.

Es kommt mir zwar selbst etwas grausam vor,
ihn nach so vielen artigen und edelmüthigen Erklä-
rungen in meinem Gemüth der schwärtzesten und
niederträchtigsten Arglist zu beschuldigen. Allein in
was für einem Ruff stehet er? wie viel ist an den
Grund-Sätzen zu tadeln, nach denen er handelt?
Er ist so leichtsinnig, so veränderlich, so stoltz, daß
er sich selbst in zwey verschiedenen Stunden nicht
ähnlich ist. Jch habe jetzt keine Schutz-Engel um
mich, keinen Vater, keine Mutter: und muß mich
blos auf GOtt und auf meine Vorsichtigkeit ver-
lassen. Auf Wunder-Wercke darf ich nicht hoffen.

Jch stand mit den Worten auf, um wegzugehen:
zu etwas muß ich mich entschliessen, Herr Lovela-
ce.
Jch will inzwischen den Entschluß bis morgen
früh aussetzen.

Er hätte mich gern länger aufgehalten. Jch
versprach ihm aber, ihn morgen so früh zu sprechen
als er es selbst beliebte. Er möchte auf eine beque-
me Miethe in oder bey London dencken. Hierauf
verließ ich ihn, gleichwie jetzt mein Schreib-Zeug,
in der Hoffnung, daß die wenigen übrigen Stunden

der



will ihn auslocken, ob er mir dieſe Zimmer in ſeinem
Gemuͤth beſtimmet hat. Wenn ich jetzt die Unter-
redung abbreche, und er faͤnget ſie morgen fruͤh mit
einiger Hitze wieder an: ſo fuͤrchte ich, daß er ſich
verſtellet hat, als er bey dem Vorſchlage wegen
London gleichguͤltig zu ſeyn ſchien, und daß ich
eine vorher beſtimmte Wohnung zu beziehen genoͤ-
thiget werden ſoll. Alsdenn will ich gar nicht nach
London reiſen.

Es kommt mir zwar ſelbſt etwas grauſam vor,
ihn nach ſo vielen artigen und edelmuͤthigen Erklaͤ-
rungen in meinem Gemuͤth der ſchwaͤrtzeſten und
niedertraͤchtigſten Argliſt zu beſchuldigen. Allein in
was fuͤr einem Ruff ſtehet er? wie viel iſt an den
Grund-Saͤtzen zu tadeln, nach denen er handelt?
Er iſt ſo leichtſinnig, ſo veraͤnderlich, ſo ſtoltz, daß
er ſich ſelbſt in zwey verſchiedenen Stunden nicht
aͤhnlich iſt. Jch habe jetzt keine Schutz-Engel um
mich, keinen Vater, keine Mutter: und muß mich
blos auf GOtt und auf meine Vorſichtigkeit ver-
laſſen. Auf Wunder-Wercke darf ich nicht hoffen.

Jch ſtand mit den Worten auf, um wegzugehen:
zu etwas muß ich mich entſchlieſſen, Herr Lovela-
ce.
Jch will inzwiſchen den Entſchluß bis morgen
fruͤh ausſetzen.

Er haͤtte mich gern laͤnger aufgehalten. Jch
verſprach ihm aber, ihn morgen ſo fruͤh zu ſprechen
als er es ſelbſt beliebte. Er moͤchte auf eine beque-
me Miethe in oder bey London dencken. Hierauf
verließ ich ihn, gleichwie jetzt mein Schreib-Zeug,
in der Hoffnung, daß die wenigen uͤbrigen Stunden

der
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0282" n="268"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
will ihn auslocken, ob er mir die&#x017F;e Zimmer in &#x017F;einem<lb/>
Gemu&#x0364;th be&#x017F;timmet hat. Wenn ich jetzt die Unter-<lb/>
redung abbreche, und er fa&#x0364;nget &#x017F;ie morgen fru&#x0364;h mit<lb/>
einiger Hitze wieder an: &#x017F;o fu&#x0364;rchte ich, daß er &#x017F;ich<lb/>
ver&#x017F;tellet hat, als er bey dem Vor&#x017F;chlage wegen<lb/><hi rendition="#fr">London</hi> gleichgu&#x0364;ltig zu &#x017F;eyn &#x017F;chien, und daß ich<lb/>
eine vorher be&#x017F;timmte Wohnung zu beziehen geno&#x0364;-<lb/>
thiget werden &#x017F;oll. Alsdenn will ich gar nicht nach<lb/><hi rendition="#fr">London</hi> rei&#x017F;en.</p><lb/>
          <p>Es kommt mir zwar &#x017F;elb&#x017F;t etwas grau&#x017F;am vor,<lb/>
ihn nach &#x017F;o vielen artigen und edelmu&#x0364;thigen Erkla&#x0364;-<lb/>
rungen in meinem Gemu&#x0364;th der &#x017F;chwa&#x0364;rtze&#x017F;ten und<lb/>
niedertra&#x0364;chtig&#x017F;ten Argli&#x017F;t zu be&#x017F;chuldigen. Allein in<lb/>
was fu&#x0364;r einem Ruff &#x017F;tehet er? wie viel i&#x017F;t an den<lb/>
Grund-Sa&#x0364;tzen zu tadeln, nach denen er handelt?<lb/>
Er i&#x017F;t &#x017F;o leicht&#x017F;innig, &#x017F;o vera&#x0364;nderlich, &#x017F;o &#x017F;toltz, daß<lb/>
er &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t in zwey ver&#x017F;chiedenen Stunden nicht<lb/>
a&#x0364;hnlich i&#x017F;t. Jch habe jetzt keine Schutz-Engel um<lb/>
mich, keinen Vater, keine Mutter: und muß mich<lb/>
blos auf GOtt und auf meine Vor&#x017F;ichtigkeit ver-<lb/>
la&#x017F;&#x017F;en. Auf Wunder-Wercke darf ich nicht hoffen.</p><lb/>
          <p>Jch &#x017F;tand mit den Worten auf, um wegzugehen:<lb/>
zu etwas muß ich mich ent&#x017F;chlie&#x017F;&#x017F;en, Herr <hi rendition="#fr">Lovela-<lb/>
ce.</hi> Jch will inzwi&#x017F;chen den Ent&#x017F;chluß bis morgen<lb/>
fru&#x0364;h aus&#x017F;etzen.</p><lb/>
          <p>Er ha&#x0364;tte mich gern la&#x0364;nger aufgehalten. Jch<lb/>
ver&#x017F;prach ihm aber, ihn morgen &#x017F;o fru&#x0364;h zu &#x017F;prechen<lb/>
als er es &#x017F;elb&#x017F;t beliebte. Er mo&#x0364;chte auf eine beque-<lb/>
me Miethe in oder bey London dencken. Hierauf<lb/>
verließ ich ihn, gleichwie jetzt mein Schreib-Zeug,<lb/>
in der Hoffnung, daß die wenigen u&#x0364;brigen Stunden<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">der</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[268/0282] will ihn auslocken, ob er mir dieſe Zimmer in ſeinem Gemuͤth beſtimmet hat. Wenn ich jetzt die Unter- redung abbreche, und er faͤnget ſie morgen fruͤh mit einiger Hitze wieder an: ſo fuͤrchte ich, daß er ſich verſtellet hat, als er bey dem Vorſchlage wegen London gleichguͤltig zu ſeyn ſchien, und daß ich eine vorher beſtimmte Wohnung zu beziehen genoͤ- thiget werden ſoll. Alsdenn will ich gar nicht nach London reiſen. Es kommt mir zwar ſelbſt etwas grauſam vor, ihn nach ſo vielen artigen und edelmuͤthigen Erklaͤ- rungen in meinem Gemuͤth der ſchwaͤrtzeſten und niedertraͤchtigſten Argliſt zu beſchuldigen. Allein in was fuͤr einem Ruff ſtehet er? wie viel iſt an den Grund-Saͤtzen zu tadeln, nach denen er handelt? Er iſt ſo leichtſinnig, ſo veraͤnderlich, ſo ſtoltz, daß er ſich ſelbſt in zwey verſchiedenen Stunden nicht aͤhnlich iſt. Jch habe jetzt keine Schutz-Engel um mich, keinen Vater, keine Mutter: und muß mich blos auf GOtt und auf meine Vorſichtigkeit ver- laſſen. Auf Wunder-Wercke darf ich nicht hoffen. Jch ſtand mit den Worten auf, um wegzugehen: zu etwas muß ich mich entſchlieſſen, Herr Lovela- ce. Jch will inzwiſchen den Entſchluß bis morgen fruͤh ausſetzen. Er haͤtte mich gern laͤnger aufgehalten. Jch verſprach ihm aber, ihn morgen ſo fruͤh zu ſprechen als er es ſelbſt beliebte. Er moͤchte auf eine beque- me Miethe in oder bey London dencken. Hierauf verließ ich ihn, gleichwie jetzt mein Schreib-Zeug, in der Hoffnung, daß die wenigen uͤbrigen Stunden der

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa03_1749
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa03_1749/282
Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 3. Göttingen, 1749, S. 268. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa03_1749/282>, abgerufen am 19.04.2024.