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Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893.

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B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
Unterschiede von den überwiegend naturalisirenden Neigungen, denen
sich der Westen hingegeben hat.

Der Mittelpunkt der künstlerischen Bewegung, und daher auch
der ornamentalen Entwicklung lag zunächst nicht im Orient, sondern
im Westen. Zweifellos hat das Bekanntwerden mit orientalischen Mo-
numentalwerken vielfach fördernd und befruchtend auf die Ausbildung
der hellenistischen Kunst eingewirkt. Aber der entscheidende, der
formgebende Faktor war der westliche, der griechische. Haben wir in
der That, wie Theodor Schreiber will, den wichtigsten Schauplatz der
Heranbildung der hellenistischen Dekorationskunst in Alexandrien zu
suchen, so bietet gerade diese Stadt die augenfälligsten Parallelen zu
der Kunst, die daselbst ihre Heimstätte gefunden haben soll: eine
griechische Gründung auf orientalischem Boden, bewohnt von griechi-
schen Bürgern, regiert von Griechen, aber nach orientalisch-monarchi-
schen Principien. Darin erkennen wir das Spiegelbild der hellenistisch-
alexandrinischen Kunst: grosse monarchische Bauherrengedanken (Se-
rapeion), unter Anwendung prunkvollen und kostbaren Materials, kühne
technische Proceduren (Wölbung), aber unter Beobachtung griechischer
Einzelformen und wohl auch ebenmässig abwägenden griechischen
Kunstgefühls.

Der Schluss, der sich aus dieser allgemeinen Betrachtung auf den
Entwicklungsgang des Pflanzenrankenornaments ergiebt, lautet dahin,
dass die naturalisirende Tendenz, deren mächtiges Anwachsen wir
schon in den letzten Jahrzehnten attischer Kunsthegemonie wahrnehmen
konnten, auch in der Kunst an den orientalisirenden Diadochenhöfen
sich geltend gemacht haben muss. Wir werden daher erwarten, dass das
hellenistische Rankenornament der plastisch-perspektivischen Palmette,
d. i. dem Akanthus, breiten Eingang gewährt hat. Und zwar handelt
es sich hiebei nicht so sehr um das Akanthusvollblatt, wie es um den
Calathus des korinthischen Kapitäls herum gereiht erscheint, sondern
um das mit der fortlaufenden Rankenlinie fest verwachsene Akanthus-
halbblatt oder die sog. Akanthusranke.

b. Die Akanthusranke.

Nichts ist bezeichnender für die Art und Weise wie man, beein-
flusst durch Vitruv's Erzählung jede bessere Einsicht in das wahre Wesen
des Akanthusornaments gewaltsam in sich niedergekämpft hat, als der
Umstand, dass man längst ganz klar erkannt hat, dass die Akanthusranke
in Wirklichkeit nicht existirt und eine blosse Erfindung des ornamen-

B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
Unterschiede von den überwiegend naturalisirenden Neigungen, denen
sich der Westen hingegeben hat.

Der Mittelpunkt der künstlerischen Bewegung, und daher auch
der ornamentalen Entwicklung lag zunächst nicht im Orient, sondern
im Westen. Zweifellos hat das Bekanntwerden mit orientalischen Mo-
numentalwerken vielfach fördernd und befruchtend auf die Ausbildung
der hellenistischen Kunst eingewirkt. Aber der entscheidende, der
formgebende Faktor war der westliche, der griechische. Haben wir in
der That, wie Theodor Schreiber will, den wichtigsten Schauplatz der
Heranbildung der hellenistischen Dekorationskunst in Alexandrien zu
suchen, so bietet gerade diese Stadt die augenfälligsten Parallelen zu
der Kunst, die daselbst ihre Heimstätte gefunden haben soll: eine
griechische Gründung auf orientalischem Boden, bewohnt von griechi-
schen Bürgern, regiert von Griechen, aber nach orientalisch-monarchi-
schen Principien. Darin erkennen wir das Spiegelbild der hellenistisch-
alexandrinischen Kunst: grosse monarchische Bauherrengedanken (Se-
rapeion), unter Anwendung prunkvollen und kostbaren Materials, kühne
technische Proceduren (Wölbung), aber unter Beobachtung griechischer
Einzelformen und wohl auch ebenmässig abwägenden griechischen
Kunstgefühls.

Der Schluss, der sich aus dieser allgemeinen Betrachtung auf den
Entwicklungsgang des Pflanzenrankenornaments ergiebt, lautet dahin,
dass die naturalisirende Tendenz, deren mächtiges Anwachsen wir
schon in den letzten Jahrzehnten attischer Kunsthegemonie wahrnehmen
konnten, auch in der Kunst an den orientalisirenden Diadochenhöfen
sich geltend gemacht haben muss. Wir werden daher erwarten, dass das
hellenistische Rankenornament der plastisch-perspektivischen Palmette,
d. i. dem Akanthus, breiten Eingang gewährt hat. Und zwar handelt
es sich hiebei nicht so sehr um das Akanthusvollblatt, wie es um den
Calathus des korinthischen Kapitäls herum gereiht erscheint, sondern
um das mit der fortlaufenden Rankenlinie fest verwachsene Akanthus-
halbblatt oder die sog. Akanthusranke.

b. Die Akanthusranke.

Nichts ist bezeichnender für die Art und Weise wie man, beein-
flusst durch Vitruv’s Erzählung jede bessere Einsicht in das wahre Wesen
des Akanthusornaments gewaltsam in sich niedergekämpft hat, als der
Umstand, dass man längst ganz klar erkannt hat, dass die Akanthusranke
in Wirklichkeit nicht existirt und eine blosse Erfindung des ornamen-

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[248/0274] B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst. Unterschiede von den überwiegend naturalisirenden Neigungen, denen sich der Westen hingegeben hat. Der Mittelpunkt der künstlerischen Bewegung, und daher auch der ornamentalen Entwicklung lag zunächst nicht im Orient, sondern im Westen. Zweifellos hat das Bekanntwerden mit orientalischen Mo- numentalwerken vielfach fördernd und befruchtend auf die Ausbildung der hellenistischen Kunst eingewirkt. Aber der entscheidende, der formgebende Faktor war der westliche, der griechische. Haben wir in der That, wie Theodor Schreiber will, den wichtigsten Schauplatz der Heranbildung der hellenistischen Dekorationskunst in Alexandrien zu suchen, so bietet gerade diese Stadt die augenfälligsten Parallelen zu der Kunst, die daselbst ihre Heimstätte gefunden haben soll: eine griechische Gründung auf orientalischem Boden, bewohnt von griechi- schen Bürgern, regiert von Griechen, aber nach orientalisch-monarchi- schen Principien. Darin erkennen wir das Spiegelbild der hellenistisch- alexandrinischen Kunst: grosse monarchische Bauherrengedanken (Se- rapeion), unter Anwendung prunkvollen und kostbaren Materials, kühne technische Proceduren (Wölbung), aber unter Beobachtung griechischer Einzelformen und wohl auch ebenmässig abwägenden griechischen Kunstgefühls. Der Schluss, der sich aus dieser allgemeinen Betrachtung auf den Entwicklungsgang des Pflanzenrankenornaments ergiebt, lautet dahin, dass die naturalisirende Tendenz, deren mächtiges Anwachsen wir schon in den letzten Jahrzehnten attischer Kunsthegemonie wahrnehmen konnten, auch in der Kunst an den orientalisirenden Diadochenhöfen sich geltend gemacht haben muss. Wir werden daher erwarten, dass das hellenistische Rankenornament der plastisch-perspektivischen Palmette, d. i. dem Akanthus, breiten Eingang gewährt hat. Und zwar handelt es sich hiebei nicht so sehr um das Akanthusvollblatt, wie es um den Calathus des korinthischen Kapitäls herum gereiht erscheint, sondern um das mit der fortlaufenden Rankenlinie fest verwachsene Akanthus- halbblatt oder die sog. Akanthusranke. b. Die Akanthusranke. Nichts ist bezeichnender für die Art und Weise wie man, beein- flusst durch Vitruv’s Erzählung jede bessere Einsicht in das wahre Wesen des Akanthusornaments gewaltsam in sich niedergekämpft hat, als der Umstand, dass man längst ganz klar erkannt hat, dass die Akanthusranke in Wirklichkeit nicht existirt und eine blosse Erfindung des ornamen-

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Zitationshilfe: Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893, S. 248. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/274>, abgerufen am 25.04.2024.