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Samter, Heinrich: Das Reich der Erfindungen. Berlin, 1896.

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Das Papier und die vervielfältigenden Künste.
mehr darauf beschränkte, Vergangenes figürlich darzustellen, sondern
anfing, auch für Gegenwart und Zukunft seine Gedanken und Gefühle
zu fixieren und seinen Mitmenschen sichtbar zu machen. Kaum einer
weiteren Entwicklung fähig war die primitivste derartige Schrift, die Knoten-
schrift (siehe Fig. 502), die wir bei den verschiedensten Völkern: Chinesen,
Mexikanern, Peruanern u. a. in alten Zeiten, bei manchen Indianer-
stämmen und Südseeinsulanern bis in die neueste Zeit hinein finden.
[Abbildung] Fig. 502.

Knotenschrift.

Sie besteht im allge-
meinen darin, daß man
Schnüre zu einem be-
stimmten System von
Knoten zusammenschürzt,
deren Zahl, Anordnung
und gegenseitige Entfernung bestimmte
Vorstellungen erwecken, bestimmte Be-
gebenheiten in unser Gedächtnis zurück-
rufen sollen. Besteht doch noch heut-
zutage bei vielen Völkern die Sitte,
durch Schürzen eines Knotens die Er-
innerung an eine Sache wach zu er-
halten. Die ursprüngliche Bedeutung
dieses Verfahrens war aber wohl
eine rein zahlenmäßige, wie auch noch
jetzt die peruanischen Hirten mit der-
artigen Knoten über den Zu- und
Abgang ihrer Herden gewissermaßen
Buch führen. Zu einem wirklichen
Schriftsystem konnte sich aber die
Knotenschrift nicht entwickeln, das
war erst der Bilderschrift vorbehalten,
aus der fast überall die ersten Schrift-
systeme hervorgegangen sind. Die
Bilderschrift ist zunächst keineswegs
kunstvolle Malerei gewesen, vielmehr
sollte sie nur durch ein möglichst be-
quem zu zeichnendes oder zu malendes
Zeichen, das auf einen bestimmten
Gegenstand unzweideutig hinwies, bei
anderen Menschen die Vorstellung dieses Gegenstandes zwecks Ver-
ständigung oder Belehrung erwecken. Wenn bei manchen Völkern
gewissen künstlerischen Rücksichten bei der Bilderschrift mehr oder
weniger Genüge geleistet wurde, so entsprang das wohl erst nachträg-
lich dem Schönheitsgefühl einzelner Individuen, die auch viel Zeit
darauf verwenden konnten. Andererseits ist die große Verschieden-
heit der Schriftentwicklung bei den verschiedenen Völkern teilweise auf

Das Papier und die vervielfältigenden Künſte.
mehr darauf beſchränkte, Vergangenes figürlich darzuſtellen, ſondern
anfing, auch für Gegenwart und Zukunft ſeine Gedanken und Gefühle
zu fixieren und ſeinen Mitmenſchen ſichtbar zu machen. Kaum einer
weiteren Entwicklung fähig war die primitivſte derartige Schrift, die Knoten-
ſchrift (ſiehe Fig. 502), die wir bei den verſchiedenſten Völkern: Chineſen,
Mexikanern, Peruanern u. a. in alten Zeiten, bei manchen Indianer-
ſtämmen und Südſeeinſulanern bis in die neueſte Zeit hinein finden.
[Abbildung] Fig. 502.

Knotenſchrift.

Sie beſteht im allge-
meinen darin, daß man
Schnüre zu einem be-
ſtimmten Syſtem von
Knoten zuſammenſchürzt,
deren Zahl, Anordnung
und gegenſeitige Entfernung beſtimmte
Vorſtellungen erwecken, beſtimmte Be-
gebenheiten in unſer Gedächtnis zurück-
rufen ſollen. Beſteht doch noch heut-
zutage bei vielen Völkern die Sitte,
durch Schürzen eines Knotens die Er-
innerung an eine Sache wach zu er-
halten. Die urſprüngliche Bedeutung
dieſes Verfahrens war aber wohl
eine rein zahlenmäßige, wie auch noch
jetzt die peruaniſchen Hirten mit der-
artigen Knoten über den Zu- und
Abgang ihrer Herden gewiſſermaßen
Buch führen. Zu einem wirklichen
Schriftſyſtem konnte ſich aber die
Knotenſchrift nicht entwickeln, das
war erſt der Bilderſchrift vorbehalten,
aus der faſt überall die erſten Schrift-
ſyſteme hervorgegangen ſind. Die
Bilderſchrift iſt zunächſt keineswegs
kunſtvolle Malerei geweſen, vielmehr
ſollte ſie nur durch ein möglichſt be-
quem zu zeichnendes oder zu malendes
Zeichen, das auf einen beſtimmten
Gegenſtand unzweideutig hinwies, bei
anderen Menſchen die Vorſtellung dieſes Gegenſtandes zwecks Ver-
ſtändigung oder Belehrung erwecken. Wenn bei manchen Völkern
gewiſſen künſtleriſchen Rückſichten bei der Bilderſchrift mehr oder
weniger Genüge geleiſtet wurde, ſo entſprang das wohl erſt nachträg-
lich dem Schönheitsgefühl einzelner Individuen, die auch viel Zeit
darauf verwenden konnten. Andererſeits iſt die große Verſchieden-
heit der Schriftentwicklung bei den verſchiedenen Völkern teilweiſe auf

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[936/0954] Das Papier und die vervielfältigenden Künſte. mehr darauf beſchränkte, Vergangenes figürlich darzuſtellen, ſondern anfing, auch für Gegenwart und Zukunft ſeine Gedanken und Gefühle zu fixieren und ſeinen Mitmenſchen ſichtbar zu machen. Kaum einer weiteren Entwicklung fähig war die primitivſte derartige Schrift, die Knoten- ſchrift (ſiehe Fig. 502), die wir bei den verſchiedenſten Völkern: Chineſen, Mexikanern, Peruanern u. a. in alten Zeiten, bei manchen Indianer- ſtämmen und Südſeeinſulanern bis in die neueſte Zeit hinein finden. [Abbildung Fig. 502. Knotenſchrift.] Sie beſteht im allge- meinen darin, daß man Schnüre zu einem be- ſtimmten Syſtem von Knoten zuſammenſchürzt, deren Zahl, Anordnung und gegenſeitige Entfernung beſtimmte Vorſtellungen erwecken, beſtimmte Be- gebenheiten in unſer Gedächtnis zurück- rufen ſollen. Beſteht doch noch heut- zutage bei vielen Völkern die Sitte, durch Schürzen eines Knotens die Er- innerung an eine Sache wach zu er- halten. Die urſprüngliche Bedeutung dieſes Verfahrens war aber wohl eine rein zahlenmäßige, wie auch noch jetzt die peruaniſchen Hirten mit der- artigen Knoten über den Zu- und Abgang ihrer Herden gewiſſermaßen Buch führen. Zu einem wirklichen Schriftſyſtem konnte ſich aber die Knotenſchrift nicht entwickeln, das war erſt der Bilderſchrift vorbehalten, aus der faſt überall die erſten Schrift- ſyſteme hervorgegangen ſind. Die Bilderſchrift iſt zunächſt keineswegs kunſtvolle Malerei geweſen, vielmehr ſollte ſie nur durch ein möglichſt be- quem zu zeichnendes oder zu malendes Zeichen, das auf einen beſtimmten Gegenſtand unzweideutig hinwies, bei anderen Menſchen die Vorſtellung dieſes Gegenſtandes zwecks Ver- ſtändigung oder Belehrung erwecken. Wenn bei manchen Völkern gewiſſen künſtleriſchen Rückſichten bei der Bilderſchrift mehr oder weniger Genüge geleiſtet wurde, ſo entſprang das wohl erſt nachträg- lich dem Schönheitsgefühl einzelner Individuen, die auch viel Zeit darauf verwenden konnten. Andererſeits iſt die große Verſchieden- heit der Schriftentwicklung bei den verſchiedenen Völkern teilweiſe auf

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Zitationshilfe: Samter, Heinrich: Das Reich der Erfindungen. Berlin, 1896, S. 936. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/samter_erfindungen_1896/954>, abgerufen am 29.03.2024.