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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

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sie bildete in der Mythologie eine zweite Welt mit absoluter Ob-
jektivität, und nicht das Werk einzelner Individuen als Individuen
war die Mythologie, sondern das eines ganzen Geschlechts, sofern
es selbst Individuum (S. 414). Diese Nothwendigkeit muß
freilich später in der Philosophie der Mythologie einer ganz ande-
ren Platz machen. Das Geschlecht, "das einem einzelnen Men-
schen gleich," wird zum menschlichen Bewußtseyn selbst -- in
welchem auch allein die Totalität dem Individuum gleich ist --
und in diesem erzeugen sich die Göttervorstellungen ursprüng-
lich ohne alles Zuthun der Phantasie mit einer Nothwendigkeit, die
sich durchaus nicht von Ideen oder von einer idealen Regel her-
schreibt, sondern von einer Katastrophe des menschlichen Bewußt-
seyns und einem daraus folgenden unwillkürlichen Proceß, dem
das Bewußtseyn hingegeben ist, unter dem es leidet.

Es dürfte somit die vollständige Veröffentlichung der Philo-
sophie der Kunst aus verschiedenen Gründen gerechtfertigt und etliches
aus diesem vor mehr als 50 Jahren gehaltenen Vortrag vielleicht
selbst denen nicht unwillkommen seyn, welche heutzutage an dieser
Wissenschaft arbeiten.

Zum Schlusse noch die Erinnerung, daß der Zeitfolge nach
zum Inhalt dieses Bandes auch die im Jahr 1802 geschriebenen
Zusätze zur zweiten Auflage der Ideen zu einer Philosophie der
Natur (Band 2 dieser Ausgabe) gehören, von welchen überdieß
der erste, der die Ueberschrift hat "Darstellung der allgemeinen
Idee der Philosophie überhaupt und der Naturphilosophie insbe-
sondere als nothwendigen und integranten Theils der ersteren" mit
der viel besprochenen Abhandlung über das Verhältniß der Natur-
philosophie zur Philosophie überhaupt in einiger Verwandtschaft steht.

Eßlingen, im Oktober 1859.

K. F. A. Schelling.

ſie bildete in der Mythologie eine zweite Welt mit abſoluter Ob-
jektivität, und nicht das Werk einzelner Individuen als Individuen
war die Mythologie, ſondern das eines ganzen Geſchlechts, ſofern
es ſelbſt Individuum (S. 414). Dieſe Nothwendigkeit muß
freilich ſpäter in der Philoſophie der Mythologie einer ganz ande-
ren Platz machen. Das Geſchlecht, „das einem einzelnen Men-
ſchen gleich,“ wird zum menſchlichen Bewußtſeyn ſelbſt — in
welchem auch allein die Totalität dem Individuum gleich iſt —
und in dieſem erzeugen ſich die Göttervorſtellungen urſprüng-
lich ohne alles Zuthun der Phantaſie mit einer Nothwendigkeit, die
ſich durchaus nicht von Ideen oder von einer idealen Regel her-
ſchreibt, ſondern von einer Kataſtrophe des menſchlichen Bewußt-
ſeyns und einem daraus folgenden unwillkürlichen Proceß, dem
das Bewußtſeyn hingegeben iſt, unter dem es leidet.

Es dürfte ſomit die vollſtändige Veröffentlichung der Philo-
ſophie der Kunſt aus verſchiedenen Gründen gerechtfertigt und etliches
aus dieſem vor mehr als 50 Jahren gehaltenen Vortrag vielleicht
ſelbſt denen nicht unwillkommen ſeyn, welche heutzutage an dieſer
Wiſſenſchaft arbeiten.

Zum Schluſſe noch die Erinnerung, daß der Zeitfolge nach
zum Inhalt dieſes Bandes auch die im Jahr 1802 geſchriebenen
Zuſätze zur zweiten Auflage der Ideen zu einer Philoſophie der
Natur (Band 2 dieſer Ausgabe) gehören, von welchen überdieß
der erſte, der die Ueberſchrift hat „Darſtellung der allgemeinen
Idee der Philoſophie überhaupt und der Naturphiloſophie insbe-
ſondere als nothwendigen und integranten Theils der erſteren“ mit
der viel beſprochenen Abhandlung über das Verhältniß der Natur-
philoſophie zur Philoſophie überhaupt in einiger Verwandtſchaft ſteht.

Eßlingen, im Oktober 1859.

K. F. A. Schelling.

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[XVIII/0026] ſie bildete in der Mythologie eine zweite Welt mit abſoluter Ob- jektivität, und nicht das Werk einzelner Individuen als Individuen war die Mythologie, ſondern das eines ganzen Geſchlechts, ſofern es ſelbſt Individuum (S. 414). Dieſe Nothwendigkeit muß freilich ſpäter in der Philoſophie der Mythologie einer ganz ande- ren Platz machen. Das Geſchlecht, „das einem einzelnen Men- ſchen gleich,“ wird zum menſchlichen Bewußtſeyn ſelbſt — in welchem auch allein die Totalität dem Individuum gleich iſt — und in dieſem erzeugen ſich die Göttervorſtellungen urſprüng- lich ohne alles Zuthun der Phantaſie mit einer Nothwendigkeit, die ſich durchaus nicht von Ideen oder von einer idealen Regel her- ſchreibt, ſondern von einer Kataſtrophe des menſchlichen Bewußt- ſeyns und einem daraus folgenden unwillkürlichen Proceß, dem das Bewußtſeyn hingegeben iſt, unter dem es leidet. Es dürfte ſomit die vollſtändige Veröffentlichung der Philo- ſophie der Kunſt aus verſchiedenen Gründen gerechtfertigt und etliches aus dieſem vor mehr als 50 Jahren gehaltenen Vortrag vielleicht ſelbſt denen nicht unwillkommen ſeyn, welche heutzutage an dieſer Wiſſenſchaft arbeiten. Zum Schluſſe noch die Erinnerung, daß der Zeitfolge nach zum Inhalt dieſes Bandes auch die im Jahr 1802 geſchriebenen Zuſätze zur zweiten Auflage der Ideen zu einer Philoſophie der Natur (Band 2 dieſer Ausgabe) gehören, von welchen überdieß der erſte, der die Ueberſchrift hat „Darſtellung der allgemeinen Idee der Philoſophie überhaupt und der Naturphiloſophie insbe- ſondere als nothwendigen und integranten Theils der erſteren“ mit der viel beſprochenen Abhandlung über das Verhältniß der Natur- philoſophie zur Philoſophie überhaupt in einiger Verwandtſchaft ſteht. Eßlingen, im Oktober 1859. K. F. A. Schelling.

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Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. XVIII. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/26>, abgerufen am 29.03.2024.