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Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888.

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Strophe in die andere. Daraus ersehen wir nämlich, daß psc_016.002
die Strophe nicht mehr gesungen worden sein kann: denn die psc_016.003
abgeschlossene Strophe verlangt unbedingt eine Pause. Die psc_016.004
Strophe ist also etwas ungebundener, freier.

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Neben diesen strophischen Heldenliedern, die nur gesagt psc_016.006
werden, wie Nibelungen, Kudrun u. s. w. steht die höfische Poesie, psc_016.007
welche in der Form den Einfluß des Sagens noch deutlicher psc_016.008
zeigt: sie ist in fortlaufenden Reimzeilen ohne strophische psc_016.009
Gliederung abgefaßt.

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Aber es wird gewiß schon vordem das Lehrgedicht des psc_016.011
12. Jahrhunderts und die geistliche Erzählung nur gesagt psc_016.012
worden sein.

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Wir haben also zwei Acte der Loslösung zu unterscheiden psc_016.014
innerhalb der gebundenen Poesie:

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I. Ablösung vom Tanz;

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II. Ablösung vom Gesang.

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Dadurch gewinnen wir drei Klassen von Poesie, die psc_016.018
wohl als drei historische Stufen angesehen werden können:

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1. Tanzpoesie; 2. Gesangpoesie; 3. ungesungene Poesie, psc_016.020
oder: 1. getanzt und gesungen; 2. gesungen aber nicht getanzt; psc_016.021
3. weder gesungen noch getanzt. Soweit diese letztere psc_016.022
Poesie strengen Rhythmus in sich hält, so weit zehrt sie von psc_016.023
der Erbschaft der getanzten Poesie. --

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Es kann nun gar keinem Zweifel unterliegen, daß das psc_016.025
gesammte Gebiet der gebundenen Poesie in den Bereich psc_016.026
unserer Aufgabe fällt. Was irgend in Rhythmus und Reim, psc_016.027
in irgend welchen Formen der gebundenen Rede abgefaßt psc_016.028
wurde, das muß uns als Poesie gelten und das bildet

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Strophe in die andere. Daraus ersehen wir nämlich, daß psc_016.002
die Strophe nicht mehr gesungen worden sein kann: denn die psc_016.003
abgeschlossene Strophe verlangt unbedingt eine Pause. Die psc_016.004
Strophe ist also etwas ungebundener, freier.

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  Neben diesen strophischen Heldenliedern, die nur gesagt psc_016.006
werden, wie Nibelungen, Kudrun u. s. w. steht die höfische Poesie, psc_016.007
welche in der Form den Einfluß des Sagens noch deutlicher psc_016.008
zeigt: sie ist in fortlaufenden Reimzeilen ohne strophische psc_016.009
Gliederung abgefaßt.

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  Aber es wird gewiß schon vordem das Lehrgedicht des psc_016.011
12. Jahrhunderts und die geistliche Erzählung nur gesagt psc_016.012
worden sein.

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  Wir haben also zwei Acte der Loslösung zu unterscheiden psc_016.014
innerhalb der gebundenen Poesie:

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I. Ablösung vom Tanz;

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II. Ablösung vom Gesang.

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  Dadurch gewinnen wir drei Klassen von Poesie, die psc_016.018
wohl als drei historische Stufen angesehen werden können:

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  1. Tanzpoesie; 2. Gesangpoesie; 3. ungesungene Poesie, psc_016.020
oder: 1. getanzt und gesungen; 2. gesungen aber nicht getanzt; psc_016.021
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Poesie strengen Rhythmus in sich hält, so weit zehrt sie von psc_016.023
der Erbschaft der getanzten Poesie. —

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  Es kann nun gar keinem Zweifel unterliegen, daß das psc_016.025
gesammte Gebiet der gebundenen Poesie in den Bereich psc_016.026
unserer Aufgabe fällt. Was irgend in Rhythmus und Reim, psc_016.027
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[16/0032] psc_016.001 Strophe in die andere. Daraus ersehen wir nämlich, daß psc_016.002 die Strophe nicht mehr gesungen worden sein kann: denn die psc_016.003 abgeschlossene Strophe verlangt unbedingt eine Pause. Die psc_016.004 Strophe ist also etwas ungebundener, freier. psc_016.005   Neben diesen strophischen Heldenliedern, die nur gesagt psc_016.006 werden, wie Nibelungen, Kudrun u. s. w. steht die höfische Poesie, psc_016.007 welche in der Form den Einfluß des Sagens noch deutlicher psc_016.008 zeigt: sie ist in fortlaufenden Reimzeilen ohne strophische psc_016.009 Gliederung abgefaßt. psc_016.010   Aber es wird gewiß schon vordem das Lehrgedicht des psc_016.011 12. Jahrhunderts und die geistliche Erzählung nur gesagt psc_016.012 worden sein. psc_016.013   Wir haben also zwei Acte der Loslösung zu unterscheiden psc_016.014 innerhalb der gebundenen Poesie: psc_016.015 I. Ablösung vom Tanz; psc_016.016 II. Ablösung vom Gesang. psc_016.017   Dadurch gewinnen wir drei Klassen von Poesie, die psc_016.018 wohl als drei historische Stufen angesehen werden können: psc_016.019   1. Tanzpoesie; 2. Gesangpoesie; 3. ungesungene Poesie, psc_016.020 oder: 1. getanzt und gesungen; 2. gesungen aber nicht getanzt; psc_016.021 3. weder gesungen noch getanzt. Soweit diese letztere psc_016.022 Poesie strengen Rhythmus in sich hält, so weit zehrt sie von psc_016.023 der Erbschaft der getanzten Poesie. — psc_016.024   Es kann nun gar keinem Zweifel unterliegen, daß das psc_016.025 gesammte Gebiet der gebundenen Poesie in den Bereich psc_016.026 unserer Aufgabe fällt. Was irgend in Rhythmus und Reim, psc_016.027 in irgend welchen Formen der gebundenen Rede abgefaßt psc_016.028 wurde, das muß uns als Poesie gelten und das bildet

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Zitationshilfe: Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888, S. 16. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/scherer_poetik_1888/32>, abgerufen am 29.03.2024.