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Schiller, Friedrich: Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reyhe von Briefen. [1. Teil; 1. bis 9. Brief.] In: Friedrich Schiller (Hrsg.): Die Horen, Band 1, 1. Stück. Tübingen, 1795, S. 7–48.

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Fünfter Brief.

Ist es dieser Charakter, den uns das jetzige Zeitalter, den die gegenwärtigen Ereignisse zeigen? Ich richte meine Aufmerksamkeit sogleich auf den hervorstechendsten Gegenstand in diesem weitläufigen Gemählde.

Wahr ist es, das Ansehen der Meinung ist gefallen, die Willkühr ist entlarvt, und, obgleich noch mit Macht bewaffnet, erschleicht sie doch keine Würde mehr; der Mensch ist aus seiner langen Indolenz und Selbsttäuschung aufgewacht, und mit nachdrücklicher Stimmen-Mehrheit fodert er die Wiederherstellung in seine unverlierbaren Rechte. Aber er fodert sie nicht bloß, jenseits und diesseits steht er auf, sich gewaltsam zu nehmen, was ihm nach seiner Meinung mit Unrecht verweigert wird. Das Gebäude des Naturstaates wankt, seine mürben Fundamente weichen, und eine physische Möglichkeit scheint gegeben, das Gesetz auf den Thron zu stellen, den Menschen endlich als Selbstzweck zu ehren, und wahre Freyheit zur Grundlage der politischen Verbindung zu machen. Vergebliche Hofnung! Die moralische Möglichkeit fehlt, und der freygebige Augenblick findet ein unempfängliches Geschlecht.

In seinen Thaten mahlt sich der Mensch, und welche Gestalt ist es, die sich in dem Drama der jetzigen Zeit abbildet! Hier Verwilderung, dort Erschlaffung: die zwey Aeussersten des menschlichen Verfalls, und beyde in Einem Zeitraum vereinigt!

Fünfter Brief.

Ist es dieser Charakter, den uns das jetzige Zeitalter, den die gegenwärtigen Ereignisse zeigen? Ich richte meine Aufmerksamkeit sogleich auf den hervorstechendsten Gegenstand in diesem weitläufigen Gemählde.

Wahr ist es, das Ansehen der Meinung ist gefallen, die Willkühr ist entlarvt, und, obgleich noch mit Macht bewaffnet, erschleicht sie doch keine Würde mehr; der Mensch ist aus seiner langen Indolenz und Selbsttäuschung aufgewacht, und mit nachdrücklicher Stimmen-Mehrheit fodert er die Wiederherstellung in seine unverlierbaren Rechte. Aber er fodert sie nicht bloß, jenseits und diesseits steht er auf, sich gewaltsam zu nehmen, was ihm nach seiner Meinung mit Unrecht verweigert wird. Das Gebäude des Naturstaates wankt, seine mürben Fundamente weichen, und eine physische Möglichkeit scheint gegeben, das Gesetz auf den Thron zu stellen, den Menschen endlich als Selbstzweck zu ehren, und wahre Freyheit zur Grundlage der politischen Verbindung zu machen. Vergebliche Hofnung! Die moralische Möglichkeit fehlt, und der freygebige Augenblick findet ein unempfängliches Geschlecht.

In seinen Thaten mahlt sich der Mensch, und welche Gestalt ist es, die sich in dem Drama der jetzigen Zeit abbildet! Hier Verwilderung, dort Erschlaffung: die zwey Aeussersten des menschlichen Verfalls, und beyde in Einem Zeitraum vereinigt!

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[22/0016] Fünfter Brief. Ist es dieser Charakter, den uns das jetzige Zeitalter, den die gegenwärtigen Ereignisse zeigen? Ich richte meine Aufmerksamkeit sogleich auf den hervorstechendsten Gegenstand in diesem weitläufigen Gemählde. Wahr ist es, das Ansehen der Meinung ist gefallen, die Willkühr ist entlarvt, und, obgleich noch mit Macht bewaffnet, erschleicht sie doch keine Würde mehr; der Mensch ist aus seiner langen Indolenz und Selbsttäuschung aufgewacht, und mit nachdrücklicher Stimmen-Mehrheit fodert er die Wiederherstellung in seine unverlierbaren Rechte. Aber er fodert sie nicht bloß, jenseits und diesseits steht er auf, sich gewaltsam zu nehmen, was ihm nach seiner Meinung mit Unrecht verweigert wird. Das Gebäude des Naturstaates wankt, seine mürben Fundamente weichen, und eine physische Möglichkeit scheint gegeben, das Gesetz auf den Thron zu stellen, den Menschen endlich als Selbstzweck zu ehren, und wahre Freyheit zur Grundlage der politischen Verbindung zu machen. Vergebliche Hofnung! Die moralische Möglichkeit fehlt, und der freygebige Augenblick findet ein unempfängliches Geschlecht. In seinen Thaten mahlt sich der Mensch, und welche Gestalt ist es, die sich in dem Drama der jetzigen Zeit abbildet! Hier Verwilderung, dort Erschlaffung: die zwey Aeussersten des menschlichen Verfalls, und beyde in Einem Zeitraum vereinigt!

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Zitationshilfe: Schiller, Friedrich: Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reyhe von Briefen. [1. Teil; 1. bis 9. Brief.] In: Friedrich Schiller (Hrsg.): Die Horen, Band 1, 1. Stück. Tübingen, 1795, S. 7–48, hier S. 22. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_erziehung01_1795/16>, abgerufen am 28.03.2024.