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Schiller, Friedrich: Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reyhe von Briefen. [1. Teil; 1. bis 9. Brief.] In: Friedrich Schiller (Hrsg.): Die Horen, Band 1, 1. Stück. Tübingen, 1795, S. 7–48.

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ger Kühnheit über das Bedürfniß erheben; denn die Kunst ist eine Tochter der Freiheit, und von der Nothwendigkeit der Geister, nicht von der Nothdurft der Materie will sie ihre Vorschrift empfangen. Jetzt aber herrscht das Bedürfniß, und beugt die gesunkene Menschheit unter sein tyrannisches Joch. Der Nutzen ist das grosse Idol der Zeit, dem alle Kräfte frohnen und alle Talente huldigen sollen. Auf dieser groben Waage hat das geistige Verdienst der Kunst kein Gewicht, und, aller Aufmunterung beraubt, verschwindet sie von dem lermenden Markt des Jahrhunderts. Selbst der philosophische Untersuchungsgeist entreißt der Einbildungskraft eine Provinz nach der andern, und die Grenzen der Kunst verengen sich, jemehr die Wissenschaft ihre Schranken erweitert.

Erwartungsvoll sind die Blicke des Philosophen wie des Weltmanns auf den politischen Schauplatz geheftet, wo jetzt, wie man glaubt, das grosse Schicksal der Menschheit verhandelt wird. Verräth es nicht eine tadelnswerthe Gleichgültigkeit gegen das Wohl der Gesellschaft, dieses allgemeine Gespräch nicht zu theilen? So nahe dieser grosse Rechtshandel, seines Inhalts und seiner Folgen wegen, jeden der sich Mensch nennt, angeht, so sehr muß er, seiner Verhandlungsart wegen, jeden Selbstdenker insbesondere interessieren. Eine Frage, welche sonst nur durch das blinde Recht des Stärkern beantwortet wurde, ist nun, wie es scheint, vor dem Richterstuhle reiner Vernunft anhängig gemacht, und wer nur immer fähig ist, sich in das Centrum des Ganzen zu versetzen, und sein Individuum zur Gattung zu steigern, darf sich als einen Beysitzer jenes Vernunftgerichts betrachten, so wie er als Mensch und Weltbürger zugleich

ger Kühnheit über das Bedürfniß erheben; denn die Kunst ist eine Tochter der Freiheit, und von der Nothwendigkeit der Geister, nicht von der Nothdurft der Materie will sie ihre Vorschrift empfangen. Jetzt aber herrscht das Bedürfniß, und beugt die gesunkene Menschheit unter sein tyrannisches Joch. Der Nutzen ist das grosse Idol der Zeit, dem alle Kräfte frohnen und alle Talente huldigen sollen. Auf dieser groben Waage hat das geistige Verdienst der Kunst kein Gewicht, und, aller Aufmunterung beraubt, verschwindet sie von dem lermenden Markt des Jahrhunderts. Selbst der philosophische Untersuchungsgeist entreißt der Einbildungskraft eine Provinz nach der andern, und die Grenzen der Kunst verengen sich, jemehr die Wissenschaft ihre Schranken erweitert.

Erwartungsvoll sind die Blicke des Philosophen wie des Weltmanns auf den politischen Schauplatz geheftet, wo jetzt, wie man glaubt, das grosse Schicksal der Menschheit verhandelt wird. Verräth es nicht eine tadelnswerthe Gleichgültigkeit gegen das Wohl der Gesellschaft, dieses allgemeine Gespräch nicht zu theilen? So nahe dieser grosse Rechtshandel, seines Inhalts und seiner Folgen wegen, jeden der sich Mensch nennt, angeht, so sehr muß er, seiner Verhandlungsart wegen, jeden Selbstdenker insbesondere interessieren. Eine Frage, welche sonst nur durch das blinde Recht des Stärkern beantwortet wurde, ist nun, wie es scheint, vor dem Richterstuhle reiner Vernunft anhängig gemacht, und wer nur immer fähig ist, sich in das Centrum des Ganzen zu versetzen, und sein Individuum zur Gattung zu steigern, darf sich als einen Beysitzer jenes Vernunftgerichts betrachten, so wie er als Mensch und Weltbürger zugleich

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[11/0005] ger Kühnheit über das Bedürfniß erheben; denn die Kunst ist eine Tochter der Freiheit, und von der Nothwendigkeit der Geister, nicht von der Nothdurft der Materie will sie ihre Vorschrift empfangen. Jetzt aber herrscht das Bedürfniß, und beugt die gesunkene Menschheit unter sein tyrannisches Joch. Der Nutzen ist das grosse Idol der Zeit, dem alle Kräfte frohnen und alle Talente huldigen sollen. Auf dieser groben Waage hat das geistige Verdienst der Kunst kein Gewicht, und, aller Aufmunterung beraubt, verschwindet sie von dem lermenden Markt des Jahrhunderts. Selbst der philosophische Untersuchungsgeist entreißt der Einbildungskraft eine Provinz nach der andern, und die Grenzen der Kunst verengen sich, jemehr die Wissenschaft ihre Schranken erweitert. Erwartungsvoll sind die Blicke des Philosophen wie des Weltmanns auf den politischen Schauplatz geheftet, wo jetzt, wie man glaubt, das grosse Schicksal der Menschheit verhandelt wird. Verräth es nicht eine tadelnswerthe Gleichgültigkeit gegen das Wohl der Gesellschaft, dieses allgemeine Gespräch nicht zu theilen? So nahe dieser grosse Rechtshandel, seines Inhalts und seiner Folgen wegen, jeden der sich Mensch nennt, angeht, so sehr muß er, seiner Verhandlungsart wegen, jeden Selbstdenker insbesondere interessieren. Eine Frage, welche sonst nur durch das blinde Recht des Stärkern beantwortet wurde, ist nun, wie es scheint, vor dem Richterstuhle reiner Vernunft anhängig gemacht, und wer nur immer fähig ist, sich in das Centrum des Ganzen zu versetzen, und sein Individuum zur Gattung zu steigern, darf sich als einen Beysitzer jenes Vernunftgerichts betrachten, so wie er als Mensch und Weltbürger zugleich

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Zitationshilfe: Schiller, Friedrich: Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reyhe von Briefen. [1. Teil; 1. bis 9. Brief.] In: Friedrich Schiller (Hrsg.): Die Horen, Band 1, 1. Stück. Tübingen, 1795, S. 7–48, hier S. 11. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_erziehung01_1795/5>, abgerufen am 29.03.2024.