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Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 1:] Über das Naive. In: Die Horen 1795, 11. St., T. VIII., S. 43-76.

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VIII
Ueber das Naive.

Es giebt Augenblicke in unserm Leben, wo wir der Na-
tur in Pflanzen, Mineralen, Thieren, Landschaften, so
wie der menschlichen Natur in Kindern, in den Sitten
des Landvolks und der Urwelt, nicht weil sie unsern Sin-
nen wohlthut, auch nicht weil sie unsern Verstand oder
Geschmack befriedigt (von beyden kann oft das gerade
Gegentheil statt finden) sondern bloß weil sie Natur
ist
, eine Art von Liebe und von rührender Achtung wid-
men. Jeder feinere Mensch, dem es nicht ganz und gar
an Empfindung fehlt, erfährt dieses, wenn er im Freyen
wandelt, wenn er auf dem Lande lebt, oder sich bey den
Denkmälern der alten Zeiten verweilet, kurz, wenn er
in künstlichen Verhältnissen und Situationen mit dem An-
blick der einfältigen Natur überrascht wird. Dieses, nicht
selten zum Bedürfniß erhöhte Interesse ist es, was vielen
unsrer Liebhabereyen für Blumen und Thiere, für ein-
fache Gärten, für Spaziergänge, für das Land und seine
Bewohner, für manche Produkte des fernen Alterthums,
u. dgl. zum Grund liegt; vorausgesetzt, daß weder Af-
fektation, noch sonst ein zufälliges Interesse dabey im
Spiele sey. Diese Art des Interesse an der Natur findet
aber nur unter zwey Bedingungen statt. Fürs erste ist
es durchaus nöthig, daß der Gegenstand, der uns dasselbe
einflößt, Natur sey oder doch von uns dafür gehalten

VIII
Ueber das Naive.

Es giebt Augenblicke in unſerm Leben, wo wir der Na-
tur in Pflanzen, Mineralen, Thieren, Landſchaften, ſo
wie der menſchlichen Natur in Kindern, in den Sitten
des Landvolks und der Urwelt, nicht weil ſie unſern Sin-
nen wohlthut, auch nicht weil ſie unſern Verſtand oder
Geſchmack befriedigt (von beyden kann oft das gerade
Gegentheil ſtatt finden) ſondern bloß weil ſie Natur
iſt
, eine Art von Liebe und von ruͤhrender Achtung wid-
men. Jeder feinere Menſch, dem es nicht ganz und gar
an Empfindung fehlt, erfaͤhrt dieſes, wenn er im Freyen
wandelt, wenn er auf dem Lande lebt, oder ſich bey den
Denkmaͤlern der alten Zeiten verweilet, kurz, wenn er
in kuͤnſtlichen Verhaͤltniſſen und Situationen mit dem An-
blick der einfaͤltigen Natur uͤberraſcht wird. Dieſes, nicht
ſelten zum Beduͤrfniß erhoͤhte Intereſſe iſt es, was vielen
unſrer Liebhabereyen fuͤr Blumen und Thiere, fuͤr ein-
fache Gaͤrten, fuͤr Spaziergaͤnge, fuͤr das Land und ſeine
Bewohner, fuͤr manche Produkte des fernen Alterthums,
u. dgl. zum Grund liegt; vorausgeſetzt, daß weder Af-
fektation, noch ſonſt ein zufaͤlliges Intereſſe dabey im
Spiele ſey. Dieſe Art des Intereſſe an der Natur findet
aber nur unter zwey Bedingungen ſtatt. Fuͤrs erſte iſt
es durchaus noͤthig, daß der Gegenſtand, der uns daſſelbe
einfloͤßt, Natur ſey oder doch von uns dafuͤr gehalten

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[43/0011] VIII Ueber das Naive. Es giebt Augenblicke in unſerm Leben, wo wir der Na- tur in Pflanzen, Mineralen, Thieren, Landſchaften, ſo wie der menſchlichen Natur in Kindern, in den Sitten des Landvolks und der Urwelt, nicht weil ſie unſern Sin- nen wohlthut, auch nicht weil ſie unſern Verſtand oder Geſchmack befriedigt (von beyden kann oft das gerade Gegentheil ſtatt finden) ſondern bloß weil ſie Natur iſt, eine Art von Liebe und von ruͤhrender Achtung wid- men. Jeder feinere Menſch, dem es nicht ganz und gar an Empfindung fehlt, erfaͤhrt dieſes, wenn er im Freyen wandelt, wenn er auf dem Lande lebt, oder ſich bey den Denkmaͤlern der alten Zeiten verweilet, kurz, wenn er in kuͤnſtlichen Verhaͤltniſſen und Situationen mit dem An- blick der einfaͤltigen Natur uͤberraſcht wird. Dieſes, nicht ſelten zum Beduͤrfniß erhoͤhte Intereſſe iſt es, was vielen unſrer Liebhabereyen fuͤr Blumen und Thiere, fuͤr ein- fache Gaͤrten, fuͤr Spaziergaͤnge, fuͤr das Land und ſeine Bewohner, fuͤr manche Produkte des fernen Alterthums, u. dgl. zum Grund liegt; vorausgeſetzt, daß weder Af- fektation, noch ſonſt ein zufaͤlliges Intereſſe dabey im Spiele ſey. Dieſe Art des Intereſſe an der Natur findet aber nur unter zwey Bedingungen ſtatt. Fuͤrs erſte iſt es durchaus noͤthig, daß der Gegenſtand, der uns daſſelbe einfloͤßt, Natur ſey oder doch von uns dafuͤr gehalten

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Zitationshilfe: Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 1:] Über das Naive. In: Die Horen 1795, 11. St., T. VIII., S. 43-76, hier S. 43. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_naive01_1795/11>, abgerufen am 18.04.2024.