Es ist eine fast allgemein angenommene Mei- nung, daß der Mensch von einem Zustand ganz thierischer Dumpfheit angefangen, durch Noth von einer Anstrengung zur andern weiter getrie- ben, unter mancherlei äussern Veranlassungen und Anregungen, sich erst ganz allmählig zu eini- ger Vernunft empor gearbeitet habe. Wenn man aber auch keine Rücksicht darauf nimmt, wie sehr diese Ansicht aller gesunden Philosophie widerstrei- tet, so muß man doch gestehen, daß sie durch die älteste Geschichte durchaus nicht bestätigt, son- dern vielmehr vor derselben als eine willkührlich erdichtete Meinung erfunden wird, und ver- schwindet. Auch ohne die Mosaische Urkunde,
Erſtes Kapitel. Vorlaͤufige Bemerkungen.
Es iſt eine faſt allgemein angenommene Mei- nung, daß der Menſch von einem Zuſtand ganz thieriſcher Dumpfheit angefangen, durch Noth von einer Anſtrengung zur andern weiter getrie- ben, unter mancherlei aͤuſſern Veranlaſſungen und Anregungen, ſich erſt ganz allmaͤhlig zu eini- ger Vernunft empor gearbeitet habe. Wenn man aber auch keine Ruͤckſicht darauf nimmt, wie ſehr dieſe Anſicht aller geſunden Philoſophie widerſtrei- tet, ſo muß man doch geſtehen, daß ſie durch die aͤlteſte Geſchichte durchaus nicht beſtaͤtigt, ſon- dern vielmehr vor derſelben als eine willkuͤhrlich erdichtete Meinung erfunden wird, und ver- ſchwindet. Auch ohne die Moſaiſche Urkunde,
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Erſtes Kapitel.
Vorlaͤufige Bemerkungen.
Es iſt eine faſt allgemein angenommene Mei-
nung, daß der Menſch von einem Zuſtand ganz
thieriſcher Dumpfheit angefangen, durch Noth
von einer Anſtrengung zur andern weiter getrie-
ben, unter mancherlei aͤuſſern Veranlaſſungen
und Anregungen, ſich erſt ganz allmaͤhlig zu eini-
ger Vernunft empor gearbeitet habe. Wenn man
aber auch keine Ruͤckſicht darauf nimmt, wie ſehr
dieſe Anſicht aller geſunden Philoſophie widerſtrei-
tet, ſo muß man doch geſtehen, daß ſie durch
die aͤlteſte Geſchichte durchaus nicht beſtaͤtigt, ſon-
dern vielmehr vor derſelben als eine willkuͤhrlich
erdichtete Meinung erfunden wird, und ver-
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Schlegel, Friedrich von: Ueber die Sprache und Weisheit der Indier. Heidelberg, 1808, S. 89. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schlegel_indier_1808/108>, abgerufen am 24.04.2024.
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