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Schleicher, August: Die Darwinsche Theorie und die Sprachwissenschaft. Weimar, 1863.

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Grundsprachen und schliesslich diese alle von einer ein-
zigen Ursprache ab?

Diese Frage würde sich mit mehr Sicherheit entscheiden
lassen, wenn wir die Gattungsgrundformen einer grösseren
Reihe von Sprachsippen aus ihren Nachkommen nach den
Gesetzen des Sprachlebens bereits erschlossen hätten. Vor
der Hand fehlt es aber an solchen Präparaten noch so gut
als völlig. Indessen lässt sich doch einiges zur Entschei-
dung der aufgeworfenen Frage aus Beobachtungen an den
vorliegenden Sprachen gewinnen.

Vor allem ist die Verschiedenheit der einzelnen, als
solche sicher erkannten, sprachlichen Sippen eine so grosse
und derartige, dass an einen gemeinsamen Ursprung der-
selben kein vorurtheilsfreier Beobachter denken kann. Kein
Mensch ist z. B. im Stande sich eine Sprache vorzustellen,
von welcher etwa indogermanisch und chinesisch, semitisch
und hottentottisch abstammen könnten; ja selbst aus den
Grundformen benachbarter und in ihrem Wesen einiger-
maassen ähnlicher Sprachstämme, z. B. aus der semitischen
und der indogermanischen Grundsprache, lässt sich keine
diesen beiden als Mutter zu zu theilende Sprachform erschlies-
sen. Eine so zu sagen materielle Abstammung aller Spra-
chen von einer einzigen Ursprache können wir also unmög-
lich voraussetzen.

Anders aber steht die Sache in Bezug auf die sprach-
liche Form. Sämmtliche höher organisierten Sprachen, also
z. B. die indogermanische Sippenmutter, die wir ja erschlies-
sen können, zeigen nämlich durch ihren Bau augenfällig,
dass sie aus einfacheren Formen durch allmähliche Ent-
wickelung hervorgegangen sind. Der Bau aller Sprachen
weist darauf hin, dass seine älteste Form im wesentlichen

Grundsprachen und schliesslich diese alle von einer ein-
zigen Ursprache ab?

Diese Frage würde sich mit mehr Sicherheit entscheiden
lassen, wenn wir die Gattungsgrundformen einer grösseren
Reihe von Sprachsippen aus ihren Nachkommen nach den
Gesetzen des Sprachlebens bereits erschlossen hätten. Vor
der Hand fehlt es aber an solchen Präparaten noch so gut
als völlig. Indessen lässt sich doch einiges zur Entschei-
dung der aufgeworfenen Frage aus Beobachtungen an den
vorliegenden Sprachen gewinnen.

Vor allem ist die Verschiedenheit der einzelnen, als
solche sicher erkannten, sprachlichen Sippen eine so grosse
und derartige, dass an einen gemeinsamen Ursprung der-
selben kein vorurtheilsfreier Beobachter denken kann. Kein
Mensch ist z. B. im Stande sich eine Sprache vorzustellen,
von welcher etwa indogermanisch und chinesisch, semitisch
und hottentottisch abstammen könnten; ja selbst aus den
Grundformen benachbarter und in ihrem Wesen einiger-
maassen ähnlicher Sprachstämme, z. B. aus der semitischen
und der indogermanischen Grundsprache, lässt sich keine
diesen beiden als Mutter zu zu theilende Sprachform erschlies-
sen. Eine so zu sagen materielle Abstammung aller Spra-
chen von einer einzigen Ursprache können wir also unmög-
lich voraussetzen.

Anders aber steht die Sache in Bezug auf die sprach-
liche Form. Sämmtliche höher organisierten Sprachen, also
z. B. die indogermanische Sippenmutter, die wir ja erschlies-
sen können, zeigen nämlich durch ihren Bau augenfällig,
dass sie aus einfacheren Formen durch allmähliche Ent-
wickelung hervorgegangen sind. Der Bau aller Sprachen
weist darauf hin, dass seine älteste Form im wesentlichen

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[21/0023] Grundsprachen und schliesslich diese alle von einer ein- zigen Ursprache ab? Diese Frage würde sich mit mehr Sicherheit entscheiden lassen, wenn wir die Gattungsgrundformen einer grösseren Reihe von Sprachsippen aus ihren Nachkommen nach den Gesetzen des Sprachlebens bereits erschlossen hätten. Vor der Hand fehlt es aber an solchen Präparaten noch so gut als völlig. Indessen lässt sich doch einiges zur Entschei- dung der aufgeworfenen Frage aus Beobachtungen an den vorliegenden Sprachen gewinnen. Vor allem ist die Verschiedenheit der einzelnen, als solche sicher erkannten, sprachlichen Sippen eine so grosse und derartige, dass an einen gemeinsamen Ursprung der- selben kein vorurtheilsfreier Beobachter denken kann. Kein Mensch ist z. B. im Stande sich eine Sprache vorzustellen, von welcher etwa indogermanisch und chinesisch, semitisch und hottentottisch abstammen könnten; ja selbst aus den Grundformen benachbarter und in ihrem Wesen einiger- maassen ähnlicher Sprachstämme, z. B. aus der semitischen und der indogermanischen Grundsprache, lässt sich keine diesen beiden als Mutter zu zu theilende Sprachform erschlies- sen. Eine so zu sagen materielle Abstammung aller Spra- chen von einer einzigen Ursprache können wir also unmög- lich voraussetzen. Anders aber steht die Sache in Bezug auf die sprach- liche Form. Sämmtliche höher organisierten Sprachen, also z. B. die indogermanische Sippenmutter, die wir ja erschlies- sen können, zeigen nämlich durch ihren Bau augenfällig, dass sie aus einfacheren Formen durch allmähliche Ent- wickelung hervorgegangen sind. Der Bau aller Sprachen weist darauf hin, dass seine älteste Form im wesentlichen

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Zitationshilfe: Schleicher, August: Die Darwinsche Theorie und die Sprachwissenschaft. Weimar, 1863, S. 21. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleicher_darwin_1863/23>, abgerufen am 28.03.2024.