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Schleicher, August: Die Darwinsche Theorie und die Sprachwissenschaft. Weimar, 1863.

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althochdeutsch tom, tuom für tetomi, neuhochdeutsch
thue) hervorgieng. In jenem ältesten dha ruhten die verschie-
denen grammatischen Beziehungen, die verbale und no-
minale sammt ihren Modificationen noch ungeschieden und
unentwickelt, wie solches sich bis jetzt bei den Sprachen
beobachten lässt, die auf der Stufe einfachster Entwickelung
stehen geblieben sind. Eben so, wie mit dem zufällig ge-
wählten Beispiele, verhält es sich aber mit allen Worten
des Indogermanischen.

Dir und Deinen Collegen kann ich gleichnissweise die
Wurzeln als einfache Sprachzellen bezeichnen, bei welchen
für die Function als Nomen, Verbum u. s. f. noch keine be-
sonderen Organe vorhanden sind und bei denen diese Func-
tionen (die grammatischen Beziehungen) noch eben so wenig
geschieden sind, als bei einzelligen Organismen oder im
Keimbläschen höherer lebender Wesen Athmen und Ver-
dauen.1)

Für alle Sprachen nehmen wir also einen formell glei-
chen Ursprung an. Als der Mensch von den Lautgebärden
und Schallnachahmungen den Weg zu den Bedeutungslauten
gefunden hatte, waren diese eben nur Bedeutungslaute,
einfache Lautformen ohne alle grammatische Beziehung.
Dem Lautmateriale nach aber, aus dem sie bestunden und
der Bedeutung nach, die sie ausdrückten, waren diese ein-
fachsten Anfänge der Sprache bei verschiedenen Menschen
verschieden; dafür zeugt die Verschiedenheit der Sprachen,
die aus jenen Anfängen sich entwickelt haben. Wir setzen
deswegen eine unzählbare Menge von Ursprachen voraus,
aber für alle statuieren wir eine und dieselbe Form.

1) Vgl. K. Snell, die Schöpfung des Menschen, Leipzig 1863, S. 81 flg.

althochdeutsch tôm, tuom für tëtômi, neuhochdeutsch
thue) hervorgieng. In jenem ältesten dha ruhten die verschie-
denen grammatischen Beziehungen, die verbale und no-
minale sammt ihren Modificationen noch ungeschieden und
unentwickelt, wie solches sich bis jetzt bei den Sprachen
beobachten lässt, die auf der Stufe einfachster Entwickelung
stehen geblieben sind. Eben so, wie mit dem zufällig ge-
wählten Beispiele, verhält es sich aber mit allen Worten
des Indogermanischen.

Dir und Deinen Collegen kann ich gleichnissweise die
Wurzeln als einfache Sprachzellen bezeichnen, bei welchen
für die Function als Nomen, Verbum u. s. f. noch keine be-
sonderen Organe vorhanden sind und bei denen diese Func-
tionen (die grammatischen Beziehungen) noch eben so wenig
geschieden sind, als bei einzelligen Organismen oder im
Keimbläschen höherer lebender Wesen Athmen und Ver-
dauen.1)

Für alle Sprachen nehmen wir also einen formell glei-
chen Ursprung an. Als der Mensch von den Lautgebärden
und Schallnachahmungen den Weg zu den Bedeutungslauten
gefunden hatte, waren diese eben nur Bedeutungslaute,
einfache Lautformen ohne alle grammatische Beziehung.
Dem Lautmateriale nach aber, aus dem sie bestunden und
der Bedeutung nach, die sie ausdrückten, waren diese ein-
fachsten Anfänge der Sprache bei verschiedenen Menschen
verschieden; dafür zeugt die Verschiedenheit der Sprachen,
die aus jenen Anfängen sich entwickelt haben. Wir setzen
deswegen eine unzählbare Menge von Ursprachen voraus,
aber für alle statuieren wir eine und dieselbe Form.

1) Vgl. K. Snell, die Schöpfung des Menschen, Leipzig 1863, S. 81 flg.
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[23/0025] althochdeutsch tôm, tuom für tëtômi, neuhochdeutsch thue) hervorgieng. In jenem ältesten dha ruhten die verschie- denen grammatischen Beziehungen, die verbale und no- minale sammt ihren Modificationen noch ungeschieden und unentwickelt, wie solches sich bis jetzt bei den Sprachen beobachten lässt, die auf der Stufe einfachster Entwickelung stehen geblieben sind. Eben so, wie mit dem zufällig ge- wählten Beispiele, verhält es sich aber mit allen Worten des Indogermanischen. Dir und Deinen Collegen kann ich gleichnissweise die Wurzeln als einfache Sprachzellen bezeichnen, bei welchen für die Function als Nomen, Verbum u. s. f. noch keine be- sonderen Organe vorhanden sind und bei denen diese Func- tionen (die grammatischen Beziehungen) noch eben so wenig geschieden sind, als bei einzelligen Organismen oder im Keimbläschen höherer lebender Wesen Athmen und Ver- dauen. 1) Für alle Sprachen nehmen wir also einen formell glei- chen Ursprung an. Als der Mensch von den Lautgebärden und Schallnachahmungen den Weg zu den Bedeutungslauten gefunden hatte, waren diese eben nur Bedeutungslaute, einfache Lautformen ohne alle grammatische Beziehung. Dem Lautmateriale nach aber, aus dem sie bestunden und der Bedeutung nach, die sie ausdrückten, waren diese ein- fachsten Anfänge der Sprache bei verschiedenen Menschen verschieden; dafür zeugt die Verschiedenheit der Sprachen, die aus jenen Anfängen sich entwickelt haben. Wir setzen deswegen eine unzählbare Menge von Ursprachen voraus, aber für alle statuieren wir eine und dieselbe Form. 1) Vgl. K. Snell, die Schöpfung des Menschen, Leipzig 1863, S. 81 flg.

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Zitationshilfe: Schleicher, August: Die Darwinsche Theorie und die Sprachwissenschaft. Weimar, 1863, S. 23. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleicher_darwin_1863/25>, abgerufen am 29.03.2024.