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Schleicher, August: Die Darwinsche Theorie und die Sprachwissenschaft. Weimar, 1863.

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der Völker verschoben sich die ursprünglichen Verhältnisse
der Sprachen, so dass jetzt nicht selten Sprachen sehr ver-
schiedener Form als Gebietsnachbarn erscheinen, ohne dass
Mittelglieder zwischen beiden vorhanden sind. So haben
wir nunmehr z. B. das vom Indogermanischen völlig ver-
schiedene Baskische als Sprachinsel in jenes eingesprengt.
Wesentlich dasselbe sagt Darwin von den Verhältnissen der
Thier- und Pflanzenwelt (S. 465 flg.).

Diess wäre nun etwa, lieber Freund und College, das,
was mir in den Sinn kam, als ich Deinen verehrten Darwin
studierte, dessen Lehren Du so eifrig zu vertheidigen und
zu verbreiten strebst, wodurch Du, wie ich so eben erfahre,
sogar den Zorn glaubenseifriger Tagesblätter auf Dich geladen
hast. Begreiflicher Weise konnten es nur die Grundzüge
der Darwinschen Anschauungen sein, die auf die Sprachen
Anwendung finden. Das Reich der Sprachen ist von dem
der Pflanzen und Thiere zu verschieden, als dass die Ge-
sammtheit der Darwinschen Ausführungen mit ihren Einzel-
heiten für dasselbe Geltung haben könnten.

Desto unbestreitbarer ist aber auf sprachlichem Gebiete
die Entstehung der Arten durch allmähliche Differenzierung
und die Erhaltung der höher entwickelten Organismen im
Kampfe ums Dasein. Die beiden Hauptpunkte der Darwin-
schen Lehre theilen also mit mancher andern wichtigen
Erkenntniss die Eigenschaft, dass sie auch in solchen Krei-
sen sich bewähren, welche anfänglich nicht in Betracht ge-
zogen wurden.1)



1) S. 426 berührt Darwin kurz die Sprachen, in deren Verwandt-
schaftsverhältnissen er mit Recht eine Bestätigung seiner Lehre ver-
muthet.

der Völker verschoben sich die ursprünglichen Verhältnisse
der Sprachen, so dass jetzt nicht selten Sprachen sehr ver-
schiedener Form als Gebietsnachbarn erscheinen, ohne dass
Mittelglieder zwischen beiden vorhanden sind. So haben
wir nunmehr z. B. das vom Indogermanischen völlig ver-
schiedene Baskische als Sprachinsel in jenes eingesprengt.
Wesentlich dasselbe sagt Darwin von den Verhältnissen der
Thier- und Pflanzenwelt (S. 465 flg.).

Diess wäre nun etwa, lieber Freund und College, das,
was mir in den Sinn kam, als ich Deinen verehrten Darwin
studierte, dessen Lehren Du so eifrig zu vertheidigen und
zu verbreiten strebst, wodurch Du, wie ich so eben erfahre,
sogar den Zorn glaubenseifriger Tagesblätter auf Dich geladen
hast. Begreiflicher Weise konnten es nur die Grundzüge
der Darwinschen Anschauungen sein, die auf die Sprachen
Anwendung finden. Das Reich der Sprachen ist von dem
der Pflanzen und Thiere zu verschieden, als dass die Ge-
sammtheit der Darwinschen Ausführungen mit ihren Einzel-
heiten für dasselbe Geltung haben könnten.

Desto unbestreitbarer ist aber auf sprachlichem Gebiete
die Entstehung der Arten durch allmähliche Differenzierung
und die Erhaltung der höher entwickelten Organismen im
Kampfe ums Dasein. Die beiden Hauptpunkte der Darwin-
schen Lehre theilen also mit mancher andern wichtigen
Erkenntniss die Eigenschaft, dass sie auch in solchen Krei-
sen sich bewähren, welche anfänglich nicht in Betracht ge-
zogen wurden.1)



1) S. 426 berührt Darwin kurz die Sprachen, in deren Verwandt-
schaftsverhältnissen er mit Recht eine Bestätigung seiner Lehre ver-
muthet.
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[29/0031] der Völker verschoben sich die ursprünglichen Verhältnisse der Sprachen, so dass jetzt nicht selten Sprachen sehr ver- schiedener Form als Gebietsnachbarn erscheinen, ohne dass Mittelglieder zwischen beiden vorhanden sind. So haben wir nunmehr z. B. das vom Indogermanischen völlig ver- schiedene Baskische als Sprachinsel in jenes eingesprengt. Wesentlich dasselbe sagt Darwin von den Verhältnissen der Thier- und Pflanzenwelt (S. 465 flg.). Diess wäre nun etwa, lieber Freund und College, das, was mir in den Sinn kam, als ich Deinen verehrten Darwin studierte, dessen Lehren Du so eifrig zu vertheidigen und zu verbreiten strebst, wodurch Du, wie ich so eben erfahre, sogar den Zorn glaubenseifriger Tagesblätter auf Dich geladen hast. Begreiflicher Weise konnten es nur die Grundzüge der Darwinschen Anschauungen sein, die auf die Sprachen Anwendung finden. Das Reich der Sprachen ist von dem der Pflanzen und Thiere zu verschieden, als dass die Ge- sammtheit der Darwinschen Ausführungen mit ihren Einzel- heiten für dasselbe Geltung haben könnten. Desto unbestreitbarer ist aber auf sprachlichem Gebiete die Entstehung der Arten durch allmähliche Differenzierung und die Erhaltung der höher entwickelten Organismen im Kampfe ums Dasein. Die beiden Hauptpunkte der Darwin- schen Lehre theilen also mit mancher andern wichtigen Erkenntniss die Eigenschaft, dass sie auch in solchen Krei- sen sich bewähren, welche anfänglich nicht in Betracht ge- zogen wurden. 1) 1) S. 426 berührt Darwin kurz die Sprachen, in deren Verwandt- schaftsverhältnissen er mit Recht eine Bestätigung seiner Lehre ver- muthet.

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Zitationshilfe: Schleicher, August: Die Darwinsche Theorie und die Sprachwissenschaft. Weimar, 1863, S. 29. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleicher_darwin_1863/31>, abgerufen am 18.04.2024.