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Schmoller, Gustav: Die Volkswirtschaft, die Volkswirtschaftslehre und ihre Methode. Frankfurt (Main), 1893.

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Staat und die Staatsverwaltung mit. Ohne die modernen Staatseinrich-
tungen ist keine Volkswirtschaft zu denken. Und wenn wir die Volks-
wirtschaft dennoch im Gegensatz zum Staate und seiner Organisation
uns vorstellen als ein freieres System zusammenwirkender Einzel-
kräfte, wenn sie weniger als der Staat der zentralisierten Leitung vom
Mittelpunkte aus bedarf, so ist doch nicht zu übersehen, daß auch in
der Volkswirtschaft heute durch die Wirtschaftspolitik, durch die
Macht der großen Kredit- und Verkehrsorgane, der wirtschaftlichen
Vereinigungen schon eine weitgehende bewußte, einheitliche Leitung
stattfindet. Und daneben ist festzuhalten, daß gleichmäßig für Staat
und Volkswirtschaft die innere, rein psychisch vermittelte Einheit
infolge gemeinsamer Ordnung, kollektiver Kräfte, übereinstimmender
Strebungen vielleicht wichtiger ist, als die durch befehlende Zentral-
organe herbeigeführte.

Ob man die Volkswirtschaft nach dem Vorbilde des menschlichen Kör-
pers einen Organismus nennen wolle, erscheint als eine untergeord-
nete Frage, sobald man sich klar ist, daß es sich dabei um eine Ana-
logie, ein Bild handele, das mancherlei veranschaulichen, aber die Er-
klärung aus der Sache nicht ersetzen kann. Die Analogie kann mit
Recht betonen, daß im menschlichen Körper wie in der Volkswirtschaft
die Mehrzahl der inneren Vorgänge sich vollzieht, ohne daß die Zentral-
organe bewußte Kunde davon erhalten, daß aber deshalb die Einheit
und, sobald es nötig ist, auch die zentral bewußte Leitung nicht fehle.
Aber mehr als ein Gleichnis ist dies nicht. Und es ist daher stets der
Schwerpunkt, wenn man die Volkswirtschaft als ein Ganzes bezeich-
net, auf die realen Ursachen der Einheit zu legen. Es handelt sich
stets darum, zu verstehen, wie es komme, daß die Menschen mit ihren
zunächst und scheinbar rein individuellen Bedürfnissen und Trieben
immer mehr zu kleineren und größeren Gruppen verbunden, teils
direkt gemeinsam, teils indirekt gemeinsam in der Form des Tausch-
verkehrs für einander wirtschaften. So rückt die soziale und politische
Grundfrage, was verbindet und trennt Menschen, welche Ursachen be-
herrschen alle gesellschaftliche Gruppenbildung, auch in das Zentrum
der volkswirtschaftlichen Betrachtung, wie sie für alle Staats- und Ge-
sellschaftswissenschaft den Ausgangspunkt bildet.

II.
DIE VOLKSWIRTSCHAFTSLEHRE

In derselben Zeit, in welcher die Sprache zum Begriff der Volks-
wirtschaft kam, entstand im Systeme der menschlichen Erkenntnis, der
einzelnen Wissenschaften die besondere Wissenschaft der Volkswirt-
schaftslehre.

Staat und die Staatsverwaltung mit. Ohne die modernen Staatseinrich-
tungen ist keine Volkswirtschaft zu denken. Und wenn wir die Volks-
wirtschaft dennoch im Gegensatz zum Staate und seiner Organisation
uns vorstellen als ein freieres System zusammenwirkender Einzel-
kräfte, wenn sie weniger als der Staat der zentralisierten Leitung vom
Mittelpunkte aus bedarf, so ist doch nicht zu übersehen, daß auch in
der Volkswirtschaft heute durch die Wirtschaftspolitik, durch die
Macht der großen Kredit- und Verkehrsorgane, der wirtschaftlichen
Vereinigungen schon eine weitgehende bewußte, einheitliche Leitung
stattfindet. Und daneben ist festzuhalten, daß gleichmäßig für Staat
und Volkswirtschaft die innere, rein psychisch vermittelte Einheit
infolge gemeinsamer Ordnung, kollektiver Kräfte, übereinstimmender
Strebungen vielleicht wichtiger ist, als die durch befehlende Zentral-
organe herbeigeführte.

Ob man die Volkswirtschaft nach dem Vorbilde des menschlichen Kör-
pers einen Organismus nennen wolle, erscheint als eine untergeord-
nete Frage, sobald man sich klar ist, daß es sich dabei um eine Ana-
logie, ein Bild handele, das mancherlei veranschaulichen, aber die Er-
klärung aus der Sache nicht ersetzen kann. Die Analogie kann mit
Recht betonen, daß im menschlichen Körper wie in der Volkswirtschaft
die Mehrzahl der inneren Vorgänge sich vollzieht, ohne daß die Zentral-
organe bewußte Kunde davon erhalten, daß aber deshalb die Einheit
und, sobald es nötig ist, auch die zentral bewußte Leitung nicht fehle.
Aber mehr als ein Gleichnis ist dies nicht. Und es ist daher stets der
Schwerpunkt, wenn man die Volkswirtschaft als ein Ganzes bezeich-
net, auf die realen Ursachen der Einheit zu legen. Es handelt sich
stets darum, zu verstehen, wie es komme, daß die Menschen mit ihren
zunächst und scheinbar rein individuellen Bedürfnissen und Trieben
immer mehr zu kleineren und größeren Gruppen verbunden, teils
direkt gemeinsam, teils indirekt gemeinsam in der Form des Tausch-
verkehrs für einander wirtschaften. So rückt die soziale und politische
Grundfrage, was verbindet und trennt Menschen, welche Ursachen be-
herrschen alle gesellschaftliche Gruppenbildung, auch in das Zentrum
der volkswirtschaftlichen Betrachtung, wie sie für alle Staats- und Ge-
sellschaftswissenschaft den Ausgangspunkt bildet.

II.
DIE VOLKSWIRTSCHAFTSLEHRE

In derselben Zeit, in welcher die Sprache zum Begriff der Volks-
wirtschaft kam, entstand im Systeme der menschlichen Erkenntnis, der
einzelnen Wissenschaften die besondere Wissenschaft der Volkswirt-
schaftslehre.

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[13/0017] Staat und die Staatsverwaltung mit. Ohne die modernen Staatseinrich- tungen ist keine Volkswirtschaft zu denken. Und wenn wir die Volks- wirtschaft dennoch im Gegensatz zum Staate und seiner Organisation uns vorstellen als ein freieres System zusammenwirkender Einzel- kräfte, wenn sie weniger als der Staat der zentralisierten Leitung vom Mittelpunkte aus bedarf, so ist doch nicht zu übersehen, daß auch in der Volkswirtschaft heute durch die Wirtschaftspolitik, durch die Macht der großen Kredit- und Verkehrsorgane, der wirtschaftlichen Vereinigungen schon eine weitgehende bewußte, einheitliche Leitung stattfindet. Und daneben ist festzuhalten, daß gleichmäßig für Staat und Volkswirtschaft die innere, rein psychisch vermittelte Einheit infolge gemeinsamer Ordnung, kollektiver Kräfte, übereinstimmender Strebungen vielleicht wichtiger ist, als die durch befehlende Zentral- organe herbeigeführte. Ob man die Volkswirtschaft nach dem Vorbilde des menschlichen Kör- pers einen Organismus nennen wolle, erscheint als eine untergeord- nete Frage, sobald man sich klar ist, daß es sich dabei um eine Ana- logie, ein Bild handele, das mancherlei veranschaulichen, aber die Er- klärung aus der Sache nicht ersetzen kann. Die Analogie kann mit Recht betonen, daß im menschlichen Körper wie in der Volkswirtschaft die Mehrzahl der inneren Vorgänge sich vollzieht, ohne daß die Zentral- organe bewußte Kunde davon erhalten, daß aber deshalb die Einheit und, sobald es nötig ist, auch die zentral bewußte Leitung nicht fehle. Aber mehr als ein Gleichnis ist dies nicht. Und es ist daher stets der Schwerpunkt, wenn man die Volkswirtschaft als ein Ganzes bezeich- net, auf die realen Ursachen der Einheit zu legen. Es handelt sich stets darum, zu verstehen, wie es komme, daß die Menschen mit ihren zunächst und scheinbar rein individuellen Bedürfnissen und Trieben immer mehr zu kleineren und größeren Gruppen verbunden, teils direkt gemeinsam, teils indirekt gemeinsam in der Form des Tausch- verkehrs für einander wirtschaften. So rückt die soziale und politische Grundfrage, was verbindet und trennt Menschen, welche Ursachen be- herrschen alle gesellschaftliche Gruppenbildung, auch in das Zentrum der volkswirtschaftlichen Betrachtung, wie sie für alle Staats- und Ge- sellschaftswissenschaft den Ausgangspunkt bildet. II. DIE VOLKSWIRTSCHAFTSLEHRE In derselben Zeit, in welcher die Sprache zum Begriff der Volks- wirtschaft kam, entstand im Systeme der menschlichen Erkenntnis, der einzelnen Wissenschaften die besondere Wissenschaft der Volkswirt- schaftslehre.

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Die Volkswirtschaft, die Volkswirtschaftslehre und ihre Methode. Frankfurt (Main), 1893, S. 13. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_volkswirtschaftslehre_1893/17>, abgerufen am 29.03.2024.