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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839.

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noch durchdringender an, und sagte: "Paris, du wirst dich
doch nicht durch das Versprechen von Geschenken bethören
lassen, die beide voll Gefahr und ungewissen Erfolges
sind! Ich will dir eine Gabe geben, die dir gar keine
Unlust bereiten soll; ich will dir geben, was du nur zu
lieben brauchst, um seiner froh zu werden: das schönste
Weib der Erde will ich dir als Gemahlin in die Arme
führen! Ich bin Aphrodite, die Göttin der Liebe!"

Als Venus dem Hirten Paris dieß Versprechen that,
stand sie vor ihm, mit ihrem Gürtel geschmückt, der ihr
den höchsten Zauber der Anmuth verlieh. Da erblaßte
vor dem Schimmer der Hoffnung und ihrer Schönheit
der Reiz der andern Göttinnen vor seinen Augen, und
mit trunkenem Muthe erkannte er der Liebesgöttin das
goldene Kleinod, das er aus Juno's Hand empfangen
hatte, zu. Juno und Minerva wandten ihm zürnend
den Rücken und schwuren die Majestätsbeleidigung ihrer
Gestalt an ihm, an seinem Vater Priamus, am Volk
und Reiche der Trojaner zu rächen, und alle miteinander
zu verderben, und Here [Juno] insbesondere wurde von
diesem Augenblicke an die unversöhnlichste Feindin der Tro¬
janer. Venus aber schied von dem entzückten Hirten mit
holdseligem Gruße, nachdem sie ihm ihr Versprechen feier¬
lich und mit dem Göttereide bekräftiget wiederholt hatte.

Paris lebte seiner Hoffnung geraume Zeit als uner¬
kannter Hirte auf den Höhen des Ida; aber da die
Wünsche, welche die Göttin in ihm rege gemacht hatte, so
lange nicht in Erfüllung gingen, so vermählte er sich hier
mit einer schönen Jungfrau Namens Oenone, die für die
Tochter eines Flußgottes und einer Nymphe galt, und mit
welcher er auf dem Berge Ida bei seinen Heerden glück¬

noch durchdringender an, und ſagte: „Paris, du wirſt dich
doch nicht durch das Verſprechen von Geſchenken bethören
laſſen, die beide voll Gefahr und ungewiſſen Erfolges
ſind! Ich will dir eine Gabe geben, die dir gar keine
Unluſt bereiten ſoll; ich will dir geben, was du nur zu
lieben brauchſt, um ſeiner froh zu werden: das ſchönſte
Weib der Erde will ich dir als Gemahlin in die Arme
führen! Ich bin Aphrodite, die Göttin der Liebe!“

Als Venus dem Hirten Paris dieß Verſprechen that,
ſtand ſie vor ihm, mit ihrem Gürtel geſchmückt, der ihr
den höchſten Zauber der Anmuth verlieh. Da erblaßte
vor dem Schimmer der Hoffnung und ihrer Schönheit
der Reiz der andern Göttinnen vor ſeinen Augen, und
mit trunkenem Muthe erkannte er der Liebesgöttin das
goldene Kleinod, das er aus Juno's Hand empfangen
hatte, zu. Juno und Minerva wandten ihm zürnend
den Rücken und ſchwuren die Majeſtätsbeleidigung ihrer
Geſtalt an ihm, an ſeinem Vater Priamus, am Volk
und Reiche der Trojaner zu rächen, und alle miteinander
zu verderben, und Here [Juno] insbeſondere wurde von
dieſem Augenblicke an die unverſöhnlichſte Feindin der Tro¬
janer. Venus aber ſchied von dem entzückten Hirten mit
holdſeligem Gruße, nachdem ſie ihm ihr Verſprechen feier¬
lich und mit dem Göttereide bekräftiget wiederholt hatte.

Paris lebte ſeiner Hoffnung geraume Zeit als uner¬
kannter Hirte auf den Höhen des Ida; aber da die
Wünſche, welche die Göttin in ihm rege gemacht hatte, ſo
lange nicht in Erfüllung gingen, ſo vermählte er ſich hier
mit einer ſchönen Jungfrau Namens Oenone, die für die
Tochter eines Flußgottes und einer Nymphe galt, und mit
welcher er auf dem Berge Ida bei ſeinen Heerden glück¬

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[10/0032] noch durchdringender an, und ſagte: „Paris, du wirſt dich doch nicht durch das Verſprechen von Geſchenken bethören laſſen, die beide voll Gefahr und ungewiſſen Erfolges ſind! Ich will dir eine Gabe geben, die dir gar keine Unluſt bereiten ſoll; ich will dir geben, was du nur zu lieben brauchſt, um ſeiner froh zu werden: das ſchönſte Weib der Erde will ich dir als Gemahlin in die Arme führen! Ich bin Aphrodite, die Göttin der Liebe!“ Als Venus dem Hirten Paris dieß Verſprechen that, ſtand ſie vor ihm, mit ihrem Gürtel geſchmückt, der ihr den höchſten Zauber der Anmuth verlieh. Da erblaßte vor dem Schimmer der Hoffnung und ihrer Schönheit der Reiz der andern Göttinnen vor ſeinen Augen, und mit trunkenem Muthe erkannte er der Liebesgöttin das goldene Kleinod, das er aus Juno's Hand empfangen hatte, zu. Juno und Minerva wandten ihm zürnend den Rücken und ſchwuren die Majeſtätsbeleidigung ihrer Geſtalt an ihm, an ſeinem Vater Priamus, am Volk und Reiche der Trojaner zu rächen, und alle miteinander zu verderben, und Here [Juno] insbeſondere wurde von dieſem Augenblicke an die unverſöhnlichſte Feindin der Tro¬ janer. Venus aber ſchied von dem entzückten Hirten mit holdſeligem Gruße, nachdem ſie ihm ihr Verſprechen feier¬ lich und mit dem Göttereide bekräftiget wiederholt hatte. Paris lebte ſeiner Hoffnung geraume Zeit als uner¬ kannter Hirte auf den Höhen des Ida; aber da die Wünſche, welche die Göttin in ihm rege gemacht hatte, ſo lange nicht in Erfüllung gingen, ſo vermählte er ſich hier mit einer ſchönen Jungfrau Namens Oenone, die für die Tochter eines Flußgottes und einer Nymphe galt, und mit welcher er auf dem Berge Ida bei ſeinen Heerden glück¬

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/32>, abgerufen am 29.03.2024.